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72. Locarno Film Festival (7. - 17.8. 2019)

72. Locarno Film Festival (7. - 17.8. 2019)

Die neue künstlerische Leiterin Lili Hinstin setzt bei ihrem ersten Programm auf Kontinuität, wartet aber auch mit sanften Neuerungen auf.

Nachdem Carlo Chatrian als künstlerischer Leiter an die Berlinale wechselte, zeichnet erstmals die 42-jährige französische Kulturmanagerin Lili Hinstin für das Programm des Tessiner Filmfestivals verantwortlich. Besonders auf der Piazza Grande wolle sie dabei eine Verbindung zwischen den starken Visionen der AutorInnen und dem großen Publikum schaffen, während die Wettbewerbsfilme vom Wunsch beseelt seien, Schranken zu überwinden.

Piazza Grande: Thriller, Komödien, Festival-Perlen
11 der 19 Filme, die auf der Piazza Grande gezeigt werden, feiern in Locarno ihre Weltpremiere. Gespannt sein darf man schon auf den Eröffnungsfilm, für den Hinstin und ihr Team mit Ginevra Elkanns Debüt „Magari“ erstmals seit vielen Jahren eine italienische Produktion ausgewählt haben. Konnte Locarno mit diesem Coming-of-Age-Film über Pariser Kinder geschiedener Eltern, die nach Rom reisen, um ihren Vater zu besuchen, dem nur drei Wochen später startenden Filmfestival von Venedig wirklich eine Perle wegschnappen oder ist der Film ein Geschenk fürs einheimische und italienische Publikum?

Auffallend ist beim Piazza-Programm die Dominanz mitteleuropäischer Produktionen und die schwache Präsenz der Schweiz, die nur mit einer Nachtvorstellung vertreten ist. Festival-Perlen aus Cannes wurden mit Quentin Tarantinos „Once Upon in Hollywood“, der nur eine Woche nach der Aufführung in Locarno in den Schweizer Kinos starten wird, und Asif Kapadias Dokumentarfilm „Diego Maradona“ eingeladen, eine internationale Grösse ist auch der Japaner Kiyoschi Kurosawa, der mit seinem Roadmovie „To the Ends of the Earth“ das Festival beschliesst.
Daneben dominieren (noch) eher unbekannte Regisseure die Piazza, gleichwohl versprechen ihre Filme ein abwechslungsreiches Programm. So legt der Deutsche Patrick Vollrath mit seinem Langfilmdebüt „7500“ einen Thriller vor, der ausschließlich im Cockpit eines Airbus A 319 spielt, während die Französin Valérie Donizelli mit „Notre dame“ eine abgedrehte romantische Komödie präsentiert. Mit Halina Rejns Debüt „Instinct“ wird ein Psychothriller geboten und mit Stéphane Demoustiers „La fille du Bracelet“ fehlt auch ein Prozessfilm nicht.

Crazy Midnight
Neu geschaffen hat Hinstin die Sektion „Crazy Midnight“, bei der als Nachtvorstellung auf der Piazza wohl abgefahrene Filme, aber auch Filme zu Preisträgern und zur Retrospektive gezeigt werden. Neben „Cecil B. Demented“ anlässlich der Verleihung des Pardo d´onore an John Waters und Bong Joon-hos Krimi „Memories of Murder“ anlässlich der Verleihung des Excellence Award an den südkoreanischen Schauspieler Song Kang-ho kann man hier auch Joecelyn DeBoers und Dawn Luebbes Komödie „Greener Grass“ oder die Komödie „Die fruchtbaren Jahre sind vorbei“ entdecken. Die Schweizerin Natascha Beller erzählt darin von drei Frauen um die 30, die versuchen ihr Leben in den Griff zu bekommen.

Die Leoparden-Kandidaten
Siebzehn Filme wurden heuer in den Wettbewerb um den Goldenen Leoparden eingeladen, auf mehrstündige Mammutwerke, die in den letzten Jahren immer wieder Aufsehen erregten, verzichtete man. Nur vier Debütanten finden sich zwar unter den Konkurrenten, von denen 14 als Weltpremiere gezeigt werden, bekannte Namen sind aber doch eher dünn gesät. – Locarno versteht sich eben auch als Festival der Entdeckungen, von dem aus Karrieren gestartet werden können.
Zu den bekannteren Namen zählen mit dem Portugiesen Pedro Costa, der „Vitalina Varela“ präsentiert, ein Vertreter des radikalen und sperrigen Autorenkinos sowie mit Ulrich Köhler und Henner Winckler, die gemeinsam „Das freiwillige Jahr“ inszenierten, zwei Proponenten der Berliner Schule.

Auch in dieser Sparte fällt die eher schwache Präsenz der Schweiz auf, die nur mit „O Fim do mundo“ von Basil da Cunha im Leopardenrennen vertreten ist. Die grosse geographische Spannbreite von Maya Khourys syrischem Dokumentarfilm „During Revolution“ bis zum isländischen „Echo“ von Rúnar Rúnarssson und vom indonesischen „The Science of Fictions“ von Yosep Anggi Noen bis zu „A Girl Missing“ des Japaners Koji Fukada verspricht aber eine vielfältige und spannende Konkurrenz.

Schweizer Film
Schweizer Filme kann man in Locarno „Außer Konkurrenz“ entdecken. Erik Bergkrauts und Ruth Schweikerts dokumentarisch-fiktionale Mischung „Wir Eltern“ wird in dieser Sektion ebenso gezeigt wie Samirs Spielfilm „Baghdad in My Shadow“ und der unter der Leitung des Ungarn Béla Tarr“ von einem Kollektiv realisierte Dokumentarfilm „Under the God“.
Dazu kommen in der Schiene Cinéastes du présent mit Klaudia Reynickes „Love me Tender“, einem laut Pressemappe surrealem feministischem Manifest, und Maya Kosas und Sergio Da Costas „L´ile aux oiseaux“ zwei Spielfilme, mehrere Talentproben in der Sparte „Pardi di domani“ sowie historische Filme – auch anlässlich der Verleihung des Pardo alla carriera an Fredi Murer sowie des Premio Cinema Ticino an Fulvio Bernasconi.

Das „Panorama Suisse“ bietet schliesslich mit elf Filmen wieder einen kleinen Überblick und Einblick in das aktuelle Schweizer Filmschaffen. Simon Jacquemets verstörender Spielfilm „Der Unschuldige“ wird hier ebenso nochmals gezeigt wie Stefan Haupts „Zwingli“ oder Fanny Bräunings Dokumentarfilm „Immer und ewig“.

Filmgeschichte und Zukunft
Nicht fehlen darf in Locarno auch die Retrospektive, die heuer unter dem Titel „Black Light“ mit 38 Lang- und sieben Kurzfilmen Einblick in das afrikanische Filmschaffen in den USA und in Europa im 20. Jahrhundert bietet. Gleichzeitig will das Festival mit der zu Ehren des im Januar verstorbenen Jonas Mekas in „Moving Ahead“ umbenannten Sektion „Signs of Life“ mit sechs Lang- und 10 Kurzfilmen zu einer Entdeckungsreise in die Grenzbereiche des Films und zu filmischen Experimenten einladen.

Dokumentarfilme in der Semaine de la critique
Und schliesslich sollte man in Locarno auch die vom Verband Schweizer Filmjournalisten organisierte Semaine de la critique, in deren Rahmen jährlich sieben ungewöhnliche Dokumentarfilme gezeigt werden, nie übersehen. Der Bogen spannt sich hier heuer von Martin Saxers, Marlen Elders´ und Daler Kazievs Porträt einer von der Welt vergessenen Kleinstadt im tadschikischen Hochland in „Murghab“ über Elke Margarete Lehrenkrauss´ Erkundung des Lebens von Sexarbeiterinnen an deutschen Verbindungsstraßen in „Love Mobil“ bis zu David Vogels Porträt Schweizer Konvertiten in „Shalom Allah“.
(Walter Gasperi)

www.locarnofestival.ch