63. Filmfestival Locarno – Ein Zwischenbericht von Walter Gasperi / Redaktionelle Beiträge / User-Beiträge / Home / 451°F - Filmportal für Filmschaffende

RUBRIKEN

KINO

UNTERSTÜTZE UNS

Damit wir das Projekt 451° Filmportal aufrecht erhalten können, sind wir auf deine Spende angewiesen. Vielen Dank!

PARTNER

63. Filmfestival Locarno – Ein Zwischenbericht von Walter Gasperi

63. Filmfestival Locarno – Ein Zwischenbericht von Walter Gasperi

Nach einer missglückten Eröffnung mit dem Historienfilm „Au fond des bois“ auf der Piazza und dem Zombie-Porno „L.A. Zombie“ im Wettbewerb zog das Festivalprogramm zum Wochenende hin kräftig an.

Schwer lastet die Kunstanstrengung auf Benoît Jacquots Eröffnungsfilm „Au fond des bois“, nur Leben gewinnt dieses nach einer Chronik aus dem 19. Jahrhundert gedrehte Drama über einen Vagabunden, der eine junge Frau mittels Hypnose sich hörig macht, damit dann aber auch ihr sexuelles Erwachen fördert, nicht. Nicht weniger zäh und in genauso beliebiger Szenenfolge zieht sich auch Bruce LaBruces „L.A. Zombie“ dahin, den der neue künstlerische Leiter Olivier Père für den Wettbewerb um den Goldenen Leoparden auswählte. Wenn hier ein Zombie nicht Lebende angreift, sondern vielmehr durch Penetration Tote ins Leben zurückholt, dient das dem Kanadier einzig dazu einen überdimensionierten erigierten Penis und die Ejakulation von Blut ausgiebig ins Bild zu rücken. Absichten und Gedanken hinter den manchen Zuschauer wohl schockierenden unappetitlichen Pornoszenen lassen sich leider keine erkennen und auch Spannung kommt nicht auf.

Spannung, Komödie und Hugo Koblet auf der Piazza

Mit dem gleichen Genre wie LaBruce arbeitet auch Marvin Kren in „Rammbock“. Der gebürtige Wiener setzt sich selbst in seinem Spielfilmdebüt aber keine hohen Ansprüche, sondern will einfach einen kleinen, kompakten Genrefilm vorlegen. Mit der Geschichte von einem Mann, der eigenlich nur seiner Ex-Freundin die Wohnungsschlüssel zurückbringen wollte, sich plötzlich im Wohnblock aber von einer Horde Infizierter umgeben sieht, ist Kren dies zweifellos gelungen. Einzige Rettungsmöglichkeit ist vorerst, sich zusammen mit einem jungen Arbeiter in der Wohnung zu verbarrikadieren und dann über den Innenhof Kontakt mit anderen in ihren Wohnungen Festsitzenden, aber noch nicht Infizierten Kontakt aufzunehmen.

Die schmutzigen verwaschenen Farben, die konsequente Einhaltung von Ort, Zeit und Handlung, die für klaustrophobische Atmosphäre sorgen, sowie das nach üblichen Genremustern konsequente und zügige Vorantreiben der Geschichte sorgen für spannende Unterhaltung. Blutige Splatter-Einlagen sind da gar nicht nötig, dafür verleihen einige Momente absurden Humors „Rammbock“ trotz aller unübersehbaren Anleihen beim spanischen „Rec“, Romeros Zombie-Filmen oder Boyles „28 Days Later“ eine eigene Note.

Eine feine Komödie wiederum gelang den Brüder Duplass mit „Cyrus“: Im Mittelpunkt steht der von John C. Reilly hinreissend gespielte Loser John. Als er Molly begegnet scheint sich für ihn der Weg ins Liebesglück aufzutun – doch bald muss er erkennen, dass er in Mollys übergewichtigem erwachsenen Sohn Cyrus einen Konkurrenten hat, der sich seine Mutter nicht so einfach von einem anderen wegnehmen lässt.

Im Gegensatz zum fiktiven John ist der Schweizer Radrennfahrer Hugo Koblet im realen Leben bei den Frauen immer bestens angekommen, hat allerdings wenig Geschick im Umgang mit Geld bewiesen und es auch im Sport an Disziplin vermissen lassen. Mit viel Archivmaterial und zahlreichen Zeitzeugen, sowie leider auch im Grunde überflüssigen nachinszenierten Szenen erzählt Daniel von Aarburg das Leben des 1964 im Alter von 39 Jahren verstorbenen Koblet nach. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Radkarriere und Frauengeschichten. Das ist zwar informativ, spricht am Rande auch das Thema Doping an, geht aber nie über die blosse Ereignisgeschichte hinaus, verdichtet die Biographie nie zu etwas Exemplarischen, so dass man fragen darf, wer sich ausser Koblet- und Radsport-Fans für diesen Film interessieren wird.

Erste Highlights im Wettbewerb

Wie eine individuelle Geschichte eindrucksvoll und bewegend exemplarische Züge gewinnen kann, zeigt die Belgierin Vanja d´Alcantara in ihrem Spielfilmdebüt „Beyond the Steppes“. Inspiriert vom Schicksal ihrer Grossmutter erzählt d´Alcantara von der jungen Nina, die 1939 nach der sowjetischen Besetzung Ostpolens mit ihrem Baby in ein Arbeitslager in Zentralasien deportiert wird. In der zurückhaltenden Inszenierung, in der Reduktion auf markante Szenen gewinnt „Beyond the Steppes“ grosse Dichte und entwickelt sich ohne Kriegsgräuel zu zeigen zu einem zutiefst bewegenden zeitlosen und universellen Film über grösste Entbehrungen, grenzenlose Mutterliebe und die Leiden des Krieges.

Formal zu begeistern vermag auch Benedek Fliegaufs „Womb“, allerdings erweist sich die Geschichte über eine Frau, die ihren verstorbenen Geliebten klonen lässt, und somit in ihrem Sohn gleichzeitig auch ihren Geliebten nochmals heranzieht, mit Fortdauer als immer dünner, da brennende Fragen solcher medizinisch-biologischer Möglichkeiten letztlich nicht diskutiert werden.

In sich geschlossen und spannend ist dagegen der serbische Wettbewerbsbeitrag „Beli, beli svet“. Vor dem Hintergrund der heruntergekommenen Minenstadt Bor erzählt Oleg Novkovic von mehreren Menschen, die sich alle nach einem besseren Leben sehnen, aber aus der Tristesse kein Entkommen finden. Hochmelodramatisch wird der atmosphärisch dichte Film dadurch, dass jeder Protagonist direkt in die Kamera ein Lied singt, in dem er seine Situation beschreibt.
(Walter Gasperi)