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The Reader

USA/Deutschland 2008, 124 Min., OV/df, Regie: Stephen Daldry, mit Kate Winslet, Ralph Fiennes, David Kross, Bruno Ganz, Alexandra Maria Lara

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Rezension von Walter Gasperi

In den späten 1990er Jahren erinnert sich der Staatsanwalt Michael Berg an sein Leben, das ganz geprägt war von seiner Beziehung zu der rund 20 Jahre älteren Hanna Schmitz: In den 50er Jahren wurde sie zu seiner ersten grossen Liebe und eine leidenschaftliche Affäre entwickelte sich. Nicht nur um Sex ging es dabei, sondern die Geliebte verlangte von dem damals 15-jährigen Gymnasiasten auch, dass er ihr zahlreiche Klassiker der Weltliteratur vorliest. Plötzlich verschwand aber Hanna aus Michaels Leben, bis er sie etwa 10 Jahre später als Jus-Student beim Besuch eines Kriegsverbrecherprozesses auf der Anklagebank sieht.

Stephen Daldry hält sich bei seiner Verfilmung von Bernhard Schlinks Roman inhaltlich ziemlich genau an die Vorlage, verschiebt aber die Akzente und auch die Tonlage. Denn während der gelernte Anwalt Schlink sachlich und nüchtern anhand der individuellen Geschichte grundsätzlich vom schwierigen Umgang der deutschen Nachkriegsgeneration mit dem Nationalsozialismus, mit Schuld und dem Umgang mit den Schuldigen, zu denen doch auch die Vätergeneration gehörte, erzählt und damit das Thema des Analpabetismus verknüpft, fokussiert Daldry, nicht zuletzt durch eine penetrante Musiksauce unterstrichen, stärker auf der Liebesgeschichte, forciert das Melodram und drängt die historisch-moralischen Fragen zugunsten, vor allem gegen Ende hin tränendrückender Emotionen in den Hintergrund.

Eindrücklich gespielt ist das zweifellos von der mit dem Oscar ausgezeichneten Kate Winslet als Hanna, während David Kross als der junge Michael Berg blass bleibt, und durchaus gediegen, aber eben auch sehr bieder und ohne eigenen Interpretationsansatz inszeniert. Da nie eine persönliche Motivation oder gar Handschrift des Regisseurs spürbar wird, bleibt letztlich doch nur die zwar kunstvolle, aber überflüssige Bebilderung des Romans.
(Walter Gasperi)

 

Kritiken

National International
- Thomas Hunziker in filmsprung.ch - Daniel Kothenschulte in fr-online.de
- Simon Spiegel in simifilm.ch - Ulrich Kriest in merkur.de
- Michael Sennhauser in sennhausersfilmblog.ch - Tobias Kniebe in sueddeutsche.de
- Charles Martig in medientipp.ch - Interview mit Stephen Daldry in rottentomatoes.com
Offizielle Website Verleiher
www.thereader-movie.com Ascot Elite

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"Tyson"

USA 2008. 90 min. Regie: James Toback



Wer ist Mike Tyson?

Der einst „böseste Mann des Planeten“ ist mittlerweile 42 alt. Und man nimmt es Mike Tyson ab, dass er sich selbst am meisten darüber wundert: I never thought I’d live to this age. Das sagt er im Porträt des New Yorker Filmers James Toback, das nach der Premiere in Cannes auch am 4. Zürcher Filmfestival gezeigt wurde. Tobacks Motivation für die Annäherung ans Phänomen Tyson ist nicht die des Boxfans. Ihm ist egal, dass die Schwergewichtsklasse am Rande der Bedeutungslosigkeit dümpelt, seit Tyson sich vom Boxen zurückgezogen hat. Und zwar nach Auftritten, in denen sich die einstige Kampfmaschine von zweitklassigen Gegnern verprügeln liess, weil er schlicht die Börse brauchte. Toback holt ihn auch nicht aus der Versenkung hervor, weil er dem unnachahmlichen Peek a Boo nachspüren will, dem Stil, mit dem Iron Mike die Königsklasse revolutionierte. Er hatte den Punch des Schwergewichts und den Speed des Federgewichts. Wie keiner pendelte er die gegnerischen Schläge aus und wurde zu seinen Glanzzeiten kaum getroffen.

Tyson ist für den Regisseur vielmehr ein perfektes Vehikel, um den Menschen in Extremsituationen und die Motive für seine Grenzüberschreitungen auszuloten: Überlebenskampf, stardom, Gewalt, Hass, Drogen. Vor allem bei der Analyse von Tysons Drogenräuschen macht das empathische Talent des Regisseurs misstrauisch: Dann nähert er sich seinem Objekt so gefährlich an, dass neben der Faszination für diesen lifestyle kaum mehr Platz für kritische Distanz bleibt. Kein Wunder: Toback überlebte als Student einen LSD-Trip nur dank der Geistesgegenwart seiner Mutter. Diese Erfahrung ermöglicht es ihm aber auch, die erweiterte Wahrnehmung unter Drogeneinfluss und die Abgründe einer gespaltenen Persönlichkeit gelungen ins Bild zu setzen. Er fängt Tysons Gesicht aus verschiedenen Blickwinkeln ein und montiert das Material zu einem fast kubistischen Porträt. Die bildliche Vervielfachung steht in betontem Gegensatz zum dünnen Personal: Der Regisseur gestattet – ziemlich gewagt – niemandem ausser Tyson selbst, sich über Tyson zu äussern. So bleibt etwa dessen Beteuerung unwidersprochen, er habe die schwarze Miss damals im Hotel nicht vergewaltigt und sei unschuldig verurteilt worden. Diese Manipulation ist in den Augen des Regisseurs offenbar zulässig, weil er Tysons Version glaubt. Abgesehen davon gilt aber: Im rhythmischen Wechsel mit den Kampfausschnitten hält der Streifen die Beschränkung auf den Protagonisten dramaturgisch überraschend gut aus. Auch deshalb, weil Tyson auf der Suche nach sich selbst sehr genau zurück blickt und unerwartet gehaltvolle, ja spannende Einsichten anbietet.

Sozialisiert unter Dieben und Dealern im Brooklyner Ghetto, verbringt der introvertierte Tyson seine Kindheit vor allem mit dem Füttern von Tauben. Und rastet zum ersten Mal aus, als ein Nachwuchsgangster einem seiner geliebten Vögel den Hals umdreht. Im legendären Cus d’Amato findet er einen Trainer, der ihm auch Geborgenheit vermittelt. Mit noch nicht 21 Jahren wird er 1986 der jüngste Champion in der Geschichte des Schwergewichts. Was danach folgt, ist laut Tyson eine jahrelange, einzige Party. Er vernichtet im Ring jeden, der es wagt, ihn herauszufordern und wird Weltmeister dreier Verbände. Gleichzeitig gibt es kaum eine Frau oder Droge, die er auslässt. Seine Ehe mit der Schauspielerin Robin Givens ist ein Desaster, das vom skandalgeilen TV-Publikum live mitverfolgt wird. Wie Muhammad Ali konvertiert er im Gefängnis zum Islam und holt sich nach Haftentlassung seinen Titel sofort zurück. Diesen verliert er 1996 an Evander Holyfield. Im Rückkampf rächt sich Tyson nach wiederholten ungeahndeten Kopfstössen seines Gegners, indem er ihm ein Stück Ohr abbeisst. In dieser Sequenz ist die emporschiessende, geradezu kannibalische Wut auf den Gegner buchstäblich mit Händen zu greifen. Und nach dem Kampf? Fuhr er laut eigenem Bekunden heim, dröhnte sich mit Joints und Schnaps zu und ging schlafen, als wäre in dieser Nacht nichts geschehen.

Tyson hat sich aber tatsächlich gewandelt: Zum Einen ist er seit längerer Zeit clean. Und er ist auch alles andere als der blutrünstige Grosskotz, als der er immer hingestellt wurde, auch wenn er mal nicht als solcher auftrat. Er unterlässt pathetische Beteuerungen und weiss um seine Anfälligkeit: What I did in the past is history. What I have in the future is mystery! Er meint es so, auch wenn der unfreiwillig produzierte Reim aus dem Munde dieses Mannes merkwürdig altklug klingt. Umso bewegender ist es, wenn er mit dem ganzen Stolz eines Vaters von seinen Kindern spricht. Und in dankbarer Demut erkennt – hier versagt seine ohnehin heisere Stimme -, dass Cus d’Amato damals vor allem eines wollte: Tysons Persönlichkeit aufbauen und sein Selbstwertgefühl stärken. So wurde der Trainer zum Vater, auch wenn d’Amato weiss und nicht sein biologischer Erzeuger war. Natürlich leitete man aus Tysons diversen Ausbrüchen jeweils nur allzu gerne das Gegenteil ab. Toback enthält uns denn auch die Szene nicht vor, wo Tyson auf einer Pressekonferenz einen Journalisten mit einer ganzen Kaskade wüster Flüche eindeckte: I’m gonna fuck you until you love me, you fagot, you white pussy! Tatsache ist aber, dass er das Establishment, im Unterschied zu Ali, nie von der afroamerikanischen Warte aus herausforderte. Das lag hauptsächlich daran, dass es vor allem Schwarze gewesen waren, die sein Vertrauen missbraucht hatten: Don King etwa, der ihn nach allen Regeln eines gnadenlosen Geschäfts abzockte. Gleichzeitig war Tyson allzu sehr damit beschäftigt, sein ständiges, wie er es nennt, „inneres Loch“ (the hole in me) mit Sex, Drogen oder Alkohol zu kompensieren.

Am Ende geht Tysons Stimme in ein hörbares Atmen über. Und Toback gibt ihm Luft. Als möchten beide unterstreichen, dass er noch da ist. Er, Iron Mike, der auch auf dem Höhepunkt seiner Karriere nie die beste Lunge hatte und es deswegen jeweils vorzog, seine Herausforderer gleich in der ersten Runde wegzupusten.

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