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Cannes 2016 – Ken Loach gewinnt seine zweite Goldene Palme. Von Doris Senn

Das Filmfestival in Cannes bot eine solide Auswahl – wenn auch ohne klare Favoriten. 21 Filme strebten die Goldene Palme an. Der in Cannes in den letzten Jahrzehnten mehrfach ausgezeichnete Altmeister Ken Loach erhielt sie eher überraschend zum zweiten Mal.

Soziale Dramen dominierten den Wettbewerb
Die gesellschaftlich engagierten Dramen machten das am deutlichsten vertretene Genre am diesjährigen Festival aus. Als Ältester der Garde – demnächst 80-jährig und seit 1990 wiederkehrend nach Cannes geladen – kehrte Ken Loach mit «I, Daniel Blake» zu einem für ihn typischen Sozialdrama zurück und erzählt gewohnt einnehmend die Story eines 59-jährigen Schreiner, der nach einem Herzinfarkt erstmals in Kontakt mit der kafkaesken Bürokratie von Arbeitsamt und Co. kommt. Der gutmütige und rechtschaffene Handwerker sieht sich mit den rigiden Regeln eines Beamtentums konfrontiert, dessen einziges Ziel es zu sein scheint, die Hilfesuchenden zu schikanieren. «I, Daniel Blake» – in der Hauptrolle der britische Stand-up-Comedian Dave Johns, der seine erste Rolle für die grosse Leinwand brillant meistert – ist ein klassischer Ken Loach, der zwar eingängig inszeniert ist, aber doch eher unerwartet erneut den Hauptpreis der Croisette erhielt.

Die Suche nach der Authentizität
Um der Realität und ihren Geschichten möglichst nahe zu kommen, nutzten die im Wettbewerb vertretenen Filmschaffenden mitunter diametral entgegengesetzte Mittel: So vertraute Cristi Puiu in seinem «Sieranevada» auf ein Huis clos – eine enge Wohnung in Bukarest – und eine ausgesprochen statische Kamera, um ein Schlaglicht auf die Turbulenzen innerhalb einer rumänischen Grossfamilie zu werfen. Im Laufe seiner fast drei Stunden Dauer verliert der Film aber seinen Fokus und damit leider auch seinen Spannungsbogen. Ebenso gewohnt lange und ruhige Einstellungen prägen das Familiendrama «Bacalaureat» des anderen grossen Vertreters des neuen rumänischen Kinos, Cristian Mungiu. Er zeichnet darin die Verzweiflung eines Vaters, der aus Liebe zu seiner Tochter und um ihr eine bessere Zukunft zu ermöglichen, bereit ist, seine Prinzipien zu verraten – und am Schluss doch resigniert. Dafür dass er damit subtil und einnehmend die Gratwanderung eines Landes im Umbruch zwischen Integrität und Korruption zeichnet, wurde Mungiu mit dem Preis für die beste Regie prämiert.

Einen ganz anderen Stil verfolgt der aus den Philippinen stammende Brillante Mendoza bei seiner Suche, die Realität einzufangen: Mit dynamischer Steadycam (Odyssey Flores) stösst «Ma’ Rosa» in die Geschäftigkeit eines Armenviertel Manilas vor und erzählt die Geschehnisse rund um die gleichnamige Hauptfigur. «Mutter Rosa» bringt ihre vierköpfige Familie mit energischem Handeln und Feilschen und einer kleinen Süssigkeitenbude über die Runden, in der auch Crystal Meth über die Theke geht. In die Fänge der Polizei geraten, setzen ihre vier Kinder alles daran, um das Geld für die korrupte Polizei zusammenzubekommen. Die Kamera nimmt uns unter prekären Lichtverhältnissen und bei strömendem Regen mit in engste Gassen und taucht uns mit allen Sinnen in dieses Setting des Überlebenskampfes der Ärmsten ein. Für ihre bravouröse Performance als Ma’ Rosa erhielt die renommierte philippinische Darstellerin Jaclyn Jose den Preis der Jury als beste Darstellerin.

Ebenfalls der Authentizität verpflichtet und ebenfalls prämiert: das Roadmovie von Andrea Arnold. In «American Honey» widmet sich die britische Filmemacherin («Red Road») einer Gruppe Jugendlicher, die durch den Mittleren Westen der USA reisen und versuchen, den Leuten Zeitschriftenabos anzudrehen. Ausgehend von einer Zeitungsnotiz, drehte Arnold mit kleiner Crew und «on the road» vorwiegend mit Laien, die über entsprechende (Lebens-)Erfahrungen verfügten. Arnolds sowohl inhaltlich als auch technisch mutigem Film, der den Preis der Jury erhielt, gibt ein ungeschöntes Bild eines grösstenteils konservativen Amerika, gepaart mit der Coming-of-Age-Geschichte der Hauptfigur Star (Sasha Lane), die vor einem kaputten Elternhaus flieht – und ihre ersten (bitteren) Erfahrungen in Sachen Liebe macht.

Im Kielwasser des «Neuen französischen Extremismus»
Den Begriff des «Neuen französischen Extremismus» prägte ein englischer Kritiker für Filme des angehenden 21. Jahrhunderts, die sich insbesondere durch eine Mischung aus «sexueller Dekadenz, brutaler Gewalt und verstörender Psychose» charakterisierten und von Regisseuren wie Léo Carax, Virginie Despentes oder Patrice Chéreau gezeichnet waren. Im diesjährigen Wettbewerb fanden sich gleich mehrere Titel von weiteren Autoren dieser Strömung. So etwa Bruno Dumonts skurriler «Ma Loute». Darin treffen eine kannibalistische Muschelsammlerfamilie – von Laien gespielt – und die wohlhabenden Van Peteghems – mit Fabrice Luchini, Valeria Bruni Tedeschi und einer überkandidelten Juliette Binoche – vor dem pittoresken Szenario einer Küstenlandschaft im Norden Frankreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufeinander. Zwischen Liebe und (verzehrender) Leidenschaft entspinnt sich ein bizarrer, nicht unamüsanter Krimi mit einem ballonhaften Kommissar, der sich zum Schluss gar in die Lüfte erhebt… Einem nicht minder grotesken Drehbuch folgt «Rester vertical» von Alain Guiraudie («L’inconnu du lac»), in dem der Filmemacher Leo sich auf die Suche nach dem Wolf und der Inspiration macht, sich dabei in die Schäferin Marie verliebt, ein Kind zeugt, Sex mit einem alten Mann hat und schliesslich tatsächlich einem Wolf Aug in Auge gegenübersteht. Und auch Olivier Assayas («Clouds of Sils Maria») mit seinem verschrobenen Geister-Thriller «Personal Shopper» mit Star Kristen Stewart in der Hauptrolle – in der Pressevorführung ausgebuht – darf zu diesen «neuen Filmen der Extreme» gerechnet werden und erhielt dafür rätselhafterweise ex aequo mit Mungiu den Preis für die beste Regie.

Enttäuschten hohe Erwartungen: Dolan, Jarmusch
Der wohl am sehnlichsten erwartetste Film war derjenige des kanadischen Regie-Wunderkins Xavier Dolan. Seine Adaption eines Theaterstücks, «Juste la fin du monde», handelt von einem HIV-positiven Autoren, der zu seiner Familie zurückkehrt, um seinen bevorstehenden Tod anzukünden. Dolan filmte mit einem Staraufgebot – Nathalie Baye, Vincent Cassel, Marion Cotillard, Léa Seydoux –, die als betont exaltierte Figuren mit geballter Emotionalität die Zuschauer eher strapazieren denn für sich einehmen. Nichtsdestotrotz verfügt der Film auch über einige wenige starke filmische Momente, die nicht zuletzt vom brillanten Gaspard Ulliel, der die Hauptfigur Louis spielt, getragen werden und von Dolans Spiel mit Bild und Sound. Vielleicht waren diese Sequenzen letztlich dafür verantwortlich – ebenso wie Dolans Mut zur emotionalen Wucht –, dass der Film mit dem Grossen Preis der Jury belohnt wurde. Insbesondere im Vergleich dazu nahm sich der jüngste Film von Kultregisseur Jim Jarmusch äusserst lau und uninspiriert aus: «Paterson» – die bewusst unspektakulär inszenierte Geschichte um einen Busfahrer in der Kleinstadt Paterson nördlich von New York und seine kunsthandwerkliche Ehefrau mit einem Faible für Schwarzweiss – lässt eine Woche im eintönigen Alltag der beiden Revue passieren, flankiert von den ungelenken Versen des dichtenden Chauffeurs, und mutet als blutleeres «exercice de stile» an.

«Divines» – ausgezeichnet für die beste Kamera
Findet sich im Wettbewerb von Cannes vor allem die altgediente Garde der Filmschaffenden, sind die Nebensektionen des Festivals, darunter die «Quinzaine des réalisateurs», oft die wahren Fundgruben für Neuentdeckungen. Dazu gehört auch die Preisträgerin der «Goldenen Kamera», Houda Benyamina, die in diesem Jahr mit ihrem Debütfilm, einem weiblichen Buddy-Movie aus der französischen Banlieue, den Preis für die beste Kamera davongetragen hat. Ihre Dankesrede war ein ebenso flammendes Plädoyer für Frauen im Filmbusiness, wie ihr Film «Divines» – entstanden in Anlehnung an die Biografie der Regisseurin – sich ebenso vehement für die Integration und gegen die Ghettoisierung von Jugendlichen (insbesondere Frauen) in den französischen Vorstädten ausspricht.
(Doris Senn)

Preise

Goldene Palme I, DANIEL BLAKE, Regie: Ken Loach
Grosser Preis JUSTE LA FIN DU MONDE, Regie: Xavier Dolan
Beste Regie
ex aequo
PERSONAL SHOPPER, Olivier Assayas
BACALAUREAT, Cristian Mungiu
Preis der Jury AMERICAN HONEY, Regie: Andrea Arnold
Beste Darstellerin Jaclyn Jose (MA’ ROSA)
Bester Darsteller Shahab Hosseini (FORUSHANDE)
Bestes Drehbuch Ashgar Farhadi für FORUSHANDE
Goldene Kamera DIVINES, Regie: Houda Benyamina
   
Kurzfilme  
Goldene Palme TIMECODE, Regie: Juanjo Gimenez
Special Mention A MOÇA QUE DANÇOU COM O DIABO, Regie: Miranda Maria