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Bericht zur 65. Berlinale. Von Walter Gasperi

Bericht zur 65. Berlinale. Von Walter Gasperi

Vielfältig und stark, aber ohne herausragenden Film präsentierte sich der Wettbewerb der heurigen Berlinale. Der Goldene Bär ging verdientermassen an den mit Berufsverbot belegten Iraner Jafar Panahi für seinem im Geheimen gedrehten „Taxi“.

„Starke Frauen in Extremsituationen“ erklärte Berlinale-Direktor Dieter Kosslick zum Motto des heurigen Wettbewerbs, doch gerade die Filme, auf die das am stärksten zutraf, überzeugten nicht. So konnte auch Juliette Binoche den Eröffnungsfilm „Nobody Wants the Night“ nicht retten, in dem Isabel Coixet von der Arktisexpedition einer bürgerlichen Amerikanerin im Jahre 1908 erzählte. Was als klassisches Expeditionsdrama in weiter Schneelandschaft beginnt, wandelt sich mit der Ankunft im Basislager zum intimen Drama zwischen der Forscherin und einer Inuit, die zunächst persönliche ebenso wie kulturelle Differenzen trennen, in der Extremsituation sich aber näher kommen.
 So spannend auch die Geschichte an sich ist: zu geradlinig und überraschungsarm ist die Erzählweise, zu schematisch angelegt ist die Konfliktsituation und die Charaktere gewinnen zu wenig Konturen, als dass ihr Schicksal wirklich packen könnte.

Enttäuschendes Wüstenepos
Ähnliches gilt für „Queen of the Desert“, in dem Werner Herzog Nicole Kidman als britische Schriftstellerin, Forscherin und Diplomatin Gertrude Bell (1868 – 1926) in die arabische Wüste schickt, aber sich auch viel Zeit für zwei unglücklich endende Liebesgeschichten nimmt. 
Die Strapazen, den Wahnsinn und das Extreme - Momente, die Herzog in seinen früheren Filmen so leidenschaftlich und eindringlich vermittelte und denen auch bei Gertrude Bell nachzuspüren gewesen wäre - bleiben hier höchstens Behauptung und zurück bleibt eine Edel-Schnulze, die auch die originellen Brechungen seines letzten großen Spielfilms „Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans“ gänzlich vermissen lässt.

Malicks Sinnsuche und Greenaways Bildersturm
Terrence Malick spaltete dagegen das Publikum mit „Knight of Cups“, in dessen Mittelpunkt ein innerlich zerrissener und ausgebrannter Hollywoodschauspieler (Christian Bale) steht, der nach einem Sinn in seinem Leben sucht. Wie gewohnt erzählt Malick nicht linear, sondern arbeitet mit einem assoziativen Bilderfluss, entwickelt nur fragmentarisch Szenen und setzt auf Voice-over statt auf Dialog. Abgesehen von der Partywelt Hollywoods als Hintergrund wärmt Malick aber fast nur aus „Tree of Life“ Bekanntes auf. Die Bilder sind zweifellos atemberaubend (Kamera: Emmanuel Lubezki), bleiben aber letztlich so inhaltsleer wie die redundanten Kalenderblatt-Sprüche des Voice-over. 
Wie „Knight of Cups“ freilich unverkennbar ein Film von Terrence Malick ist, so sieht man „Eisenstein in Guanajuato“ die Autorschaft Peter Greenaway in praktisch jeder Szene an. Mit Wechsel von Farb- und Schwarzweissaufnahmen, Splitscreen und Ausschnitten aus den grossen Filmen Sergej Eisensteins entfesselt der 72-jährige Brite einen wahren Bildersturm, in dem er zeigen will, wie der sowjetische Meisterregisseur während seines Mexikoaufenthalts 1931 innerlich erschüttert wurde. Den Fokus legt Greenaway dabei vor allem auf die (homo)sexuelle Initiation, die er quasi mit Eisensteins Darstellung der Oktoberrevolution gleichsetzt. So schwungvoll „Eisenstein in Guanajuato“ aber auch beginnt, so grossartig die Bildeinfälle sind, so kalt lässt dieser Film doch auch den Zuschauer.

Goldener Bär für Jafar Panahis „Taxi“
Während diese grossen Regisseure bei der Preisverleihung dann auch leer ausgingen, triumphierte der Iraner Jafar Panahi mit „Taxi“, der neben dem Goldenen Bären auch mit dem Preis der Internationalen Filmkritik (Fipresci) ausgezeichnet wurde. Panahi konnte allerdings die Preise nicht selbst entgegennehmen, da er den Iran nicht verlassen darf. Schon ein Wunder ist es, dass es ihm gelang trotz 20-jährigem Berufsverbot nach „Dies ist kein Film“ und „Pardé“ mit „Taxi“ nun schon seinen dritten Film im Geheimen zu drehen und ins Ausland zu schmuggeln. 
Die Anlage von „Taxi“ ist im Grunde simpel. Panahi beschränkt sich darauf mit einer vor der Windschutzscheibe eines Taxis montierten Kamera bald das Geschehen auf der Strasse, bald die Gespräche der Fahrgäste mit dem von ihm selbst gespielten Taxifahrer zu filmen. Raffiniert zwischen Dokument und Fiktion oszillierend, wird dabei in diesem wunderbar leichten und auch witzigen Film in den Diskussionen über die Todesstrafe, Filmverbote und Regeln für „zeigbare Filme“ Regimekritik geübt.

Fremde Welt der Kakchiquel-Maya
Zu den Überraschungen des Festivals zählte auch Jayro Bustamentes mit dem Alfred Bauer-Preis ausgezeichneter „Ixcanul“. Im Zentrum dieses Langfilmdebüts des Guatemalteken steht die 17-jährige Kakchiquel-Maya Maria, die mit ihren Eltern auf einer Kaffeeplantage lebt. Die junge Frau soll mit einem Vorarbeiter verheiratet werden, träumt aber selbst vom Ausbruch aus der engen Welt. 
Bestechend verbindet Bustamente diese fiktive Geschichte mit einer geduldigen quasidokumentarischen Schilderung des alltäglichen Lebens und der religiösen Bräuche der fern jeder Zivilisation lebenden Familie. Plastisch deckt er dabei auch die Manipulation und Ausbeutung auf, der die Indigenen aufgrund der Tatsache ausgesetzt sind, dass sie kein Spanisch beherrschen.

Starkes Ehedrama
Einen starken Eindruck hinterliess auch Andrew Haighs „45 Years“. Ganz unspektakulär und unsentimental, aber sorgfältig aufgebaut und mit genauem Blick für emotionale Regungen erzählt der Brite, wie die Beziehung eines Paares nach 45-jähriger Ehe durch eine einzige Nachricht erschüttert wird. Vertrauen kann Haigh bei diesem Kammerspiel auch auf seine grossartigen Hauptdarsteller Charlotte Rampling und Tom Courtenay, die schliesslich auch von der Jury mit Silbernen Bären für die besten schauspielerische Leistungen ausgezeichnet wurden.

Chilenische Geschichte
Im Gegensatz zu diesem privaten Film taucht der Chilene Patricio Guzmán in „Der Perlmuttknopf“, dem einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb, ein weiteres Mal in die Geschichte seines Heimatlandes ein. Stand in seinem letzten Film „Nostalgia de la luz“ dabei die Atacama-Wüste im Mittelpunkt, so wendet sich der in Paris lebende Regisseur nun dem regenreichen Patagonien zu. Dort spürt er zunächst der Ausrottung der indigenen Kultur nach, um dann an den Terror der Pinochet-Ära zu erinnern, während der die Leichen von über 1000 Regimegegnern von Hubschraubern aus ins Meer geworfen wurden. In seinem klaren Aufbau, dem Mix aus ruhigem Kommentar und bestechenden Bildern ist „Der Perlmuttknopf“, der neben dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch auch mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet wurde, gleichermassen poetisch wie informativ und erschütternd.

Furioses Experiment
Ein furioses filmisches Experiment legte dagegen der Deutsche Sebastian Schipper mit „Victoria“ vor. 140 Minuten lang folgt hier die Kamera von Sturla Brandth Grøvlen, der dafür den Silbernen Bär für eine herausragende künstlerische Leistung erhielt, in einer ungeschnittenen Einstellung der jungen Spanierin Victoria durch eine Berliner Nacht. Vor einer Disco trifft sie ein paar Mittzwanziger, zieht mit ihnen zuerst ausgelassen durch die Strassen und sieht sich schliesslich in einen Banküberfall verwickelt. Hautnah an den Figuren und mittendrin im Geschehen ist man bei dieser filmischen Tour de Force, die grossen Sog entwickelt, doch Unglaubwürdigkeiten in der Handlung lassen den Zuschauer auch mehrfach den Kopf schütteln.

Schweizer Koproduktion
Eine Frau steht auch im Mittelpunkt des von der Schweiz koproduzierten italienischen Wettbewerbsbeitrags „Sworn Virgin“. Laura Bispuri erzählt darin einfühlsam und bewegend von einer jungen Frau, die in der patriarchalen albanischen Bauerngesellschaft, um nicht völlig rechtlos zu sein, die Identität eines Mannes annimmt, Jahre später aber nach Italien emigriert und erst langsam und sukzessive wieder ihre wahre Identität und Sexualität finden muss. – Wie viele Wettbewerbsbeiträge, ein kleiner Film, der von genauer Beobachtung, sorgfältiger Handlungsentwicklung und starken Darstellern (Alba Rohrwacher) getragen wird.
(Walter Gasperi)

PREISE DER INTERNATIONALEN JURY

GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM Taxi von Jafar Panahi
SILBERNER BÄR GROSSER PREIS DER JURY El Club von Pablo Larraín
SILBERNER BÄR ALFRED-BAUER-PREIS Ixcanul von Jayro Bustamante
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE Radu Jude für Aferim!
ex aequo Małgorzata Szumowska für Body
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE DARSTELLERIN Charlotte Rampling in 45 Years von Andrew Haigh
SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN DARSTELLER Tom Courtenay in 45 Years von Andrew Haigh
SILBENER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH Patricio Guzmán für El botón de nácar von Patricio Guzmán
SILBERNER BÄR FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG aus den Kategorien Kamera, Schnitt, Musik, Kostüm oder Set-Design Sturla Brandth Grøvlen für die Kamera in Victoria von Sebastian Schipper
ex aequo Evgeniy Privin und Sergey Mikhalchuk für die Kamera in Pod electricheskimi oblakami von Alexey German Jr.
PREIS BESTER ERSTLINGSFILM 600 Millas von Gabriel Ripstein
   

PREISE DER INTERNATIONALEN KURZFILMJURY

GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN KURZFILM HOSANNA von Na Young-kil
SILBERNER BÄR PREIS DER JURY Bad at Dancing von Joanna Arnow
BERLIN SHORT FILM NOMINEE FOR THE EUROPEAN FILM AWARDS Dissonance von Till Nowak
AUDI SHORT FILM AWARD PLANET Σ von Momoko Seto
   

Die restlichen Preise der 65. Berlinale findest du hier