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Schlussbericht über die 67. Berlinale. Von Walter Gasperi

Die grossen Enttäuschungen blieben im Wettbewerb der heurigen Berlinale zwar aus, doch auch die Höhepunkte waren dünn gesät. Der Goldene Bär ging an „On Body and Soul“ der Ungarin Ildikó Enyedi, während Aki Kaurismäki für „The Other Side of Hope“ mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde.

Programmatisch eröffnete das politischste unter den drei grossen europäischen Filmfestivals Berlin, Cannes und Venedig mit einem Film über Rassismus und Flucht: In „Django“ zeichnet Étienne Comar nicht das Leben des legendären Sinti-Gitarristen Django Reinhardt nach, sondern konzentriert sich ganz auf dessen Flucht aus dem von den Nazis besetzten Frankreich im Herbst 1943. In der historischen Geschichte wird dabei unübersehbar auch vom aktuellen Flüchtlingselend angespielt, doch so spannend der Stoff ist und so mitreissend die Musik ist, so bieder und langatmig ist Comars Erzählweise.

Goldener Bär für Ildikó Enyedis „On Body and Soul“
Auf den schwachen Beginn folgte am zweiten Festivaltag sogleich der spätere Siegerfilm. Nicht mehr viel hat man von Ildikó Enyedi gehört, nachdem sie vor 28 (!) Jahren mit „Mein 20. Jahrhundert“ ein gefeiertes Debüt vorgelegt hatte. Die 1955 geborene Ungarin erzählt in ihrem nicht nur mit dem Goldenen Bären, sondern auch mit dem Preis der Ökumenischen Jury und dem Preis der Filmkritiker (FIPRESCI) ausgezeichneten fünften Spielfilm „On Body and Soul“ von einer äussert scheuen, fast schon autistischen Qualitätsprüferin eines Schlachthauses. Näher kommt sie dem ebenfalls sehr zurückhaltenden Vorgesetzten erst, als eine Psychologin entdeckt, dass beide die gleichen Träume haben. Weit ist aber noch der Weg, bis die engelhafte junge Frau lernt aus ihrem Schneckenhaus auszubrechen und Nähe zuzulassen.

Langsam und mit grossem Feingefühl entwickelt Enyedi die Handlung, mischt märchenhaft-poetische Momente spielerisch leicht mit realistischen Szenen und beweist auch ein sicheres Gespür für sanften Humor. Geduld wird dabei freilich vom Zuschauer verlangt, denn die Verschlossenheit der Figuren erschwert auch ihm den emotionalen Zugang.

Grosser Preis der Jury für „Félicité” von Alain Gomis
Während sich die Protagonistin von „On Body and Soul“ am liebsten quasi unsichtbar macht, ist die alleinerziehende Mutter und Barsängerin in Alain Gomis´ in Kinshasa spielendem „Félicité“ eine echte Kämpferin. Auf Schritt und Tritt folgt die Kamera dieser starken und von Véro Tshanda Beya stark gespielten Frau bei ihren Bemühungen Geld für die Operation ihres verunfallten Sohnes aufzutreiben. Packend ist der Film in der Schilderung des verzweifelten Einzelkampfes, doch überflüssige Traumsequenzen und ein wenig überzeugendes Happy-End stören den Gesamteindruck. Dennoch verlieh die von Paul Verhoeven geleitete Jury den Grossen Preis der Jury an dieses Drama.

Regiepreis für Aki Kaurismäki für „The Other Side of Hope“
In den Kritikerspiegeln lag Aki Kaurismäkis „The Other Side of Hope“ zwar bis zum Ende des Festivals an der Spitze, doch letztlich wurde er „nur“ mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet. In einem Festival, das insgesamt doch arm an echten Höhepunkten war, sorgte der Finne mit seinem nach „Le Havre“ zweiten Teil einer Hafenstadttrilogie für ein echtes Kinoerlebnis. Offen bleibt nun freilich, ob diese Trilogie überhaupt fertig gestellt wird, denn gegen Ende des Festivals erklärte der 59-jährige Regisseur in einem Interview, dass er keine weiteren Filme mehr machen werde.

In „The Other Side of Hope“ erzählt Kaurismäki parallel von einem syrischen Flüchtling, der in Helsinki um Asyl ansucht, und einem Hemdenverkäufer, der nicht nur seine Frau verlässt, sondern auch seinen Job aufgibt und ein Restaurant übernimmt. Erst nach rund 40 Minuten fügen sich die beiden Erzählstränge zu einem und nach kurzem Konflikt bilden Restaurantbesitzer mit Belegschaft und Flüchtling eine Schicksalsgemeinschaft, die sich gemeinsam gegen Behörden und wirtschaftliche Malaise zu behaupten versucht.

Das mag nicht Kaurismäkis bester Film sein, wirkt etwas überladen mit den zwei Geschichten, frönt allzu sehr dem Blues und schwermütigen finnischen Songs. Leicht lassen aber die bestechend lakonische Erzählweise, die hinreissende Figurenzeichnung, eine für Kaurismäki typische Farbdramaturgie sowie der warmherzig-humanistische Grundton über diese kleinen Schwächen hinwegsehen. Mehr als verdient hätte dieser Grosse des internationalen Autorenfilms, der noch nie den Hauptpreis eines der drei grossen europäischen Filmfestivals erhalten hat, den Goldenen Bären.

Alfred-Bauer-Preis für “Pokot” von Agnieszka Holland
Etwas seltsam wirkt, dass der Alfred-Bauer-Preis, der an einen Film verliehen werden soll, der der Filmkunst neue Perspektiven eröffnet, an „Pokot" von Agnieszka Holland vergeben wurde. Sehr unterhaltsam und gekonnt erzählt die polnische Altmeisterin in diesem teils komödiantischen Krimi zwar von einer Pensionistin, die sich gegen eine aggressive männliche Jagdgesellschaft zur Wehr setzt, doch filmsprachliche Innovation ist hier kaum zu finden. Zentral ist zwar in dem Film der Traum von neuen gesellschaftlichen Perspektiven und der Ablösung der brutalen Männerherrschaft durch eine lebensfrohe, selbstverständlich weiblich bestimmte und vegetarische Gesellschaft, aber die Erzählweise ist doch konventionell.

Der Hang zum Konventionellen kennzeichnete insgesamt den heurigen Wettbewerb. Echte Enttäuschungen blieben zwar aus, doch auf Filme, die einen staunen lehren und überraschen, die mitreissen und lange über das Filmende haften bleiben, wartete man vergeblich. Mit „On Body and Soul“ gab es zwar früh einen starken Film und mit „The Other Side of Hope“ in der Mitte des Festivals ein Highlight, doch das war immer nur ein heftiges, aber kurzes Aufflackern, denn insgesamt flachte der Wettbewerb gegen Ende hin ab, statt entscheidend zuzulegen.

Darstellerpreise für Georg Friedrich und Kim Min-hee
Als besten Darsteller zeichnete die Jury verdientermassen Georg Friedrich für seine Leistung in „Helle Nächte“ aus, in dem Thomas Arslan erzählt, wie ein Vater versucht, seinem 14-jährigen Sohn, der ihm nahezu unbekannt ist, auf einer Reise durch Nordnorwegen näher zu kommen. Der 51-jährige Wiener Schauspieler trägt zusammen mit Tristan Göbel („Tschick“) mit seiner einfühlsamen Verkörperung dieses Vaters, der zwischen dem Versuch der Kommunikation und Aggressionen pendelt, dieses Roadmovie, mit dem Arslan den Minimalismus ins Extrem treibt. 

Überraschend ist dagegen die Wahl Kim Min-hee Kims zur besten Darstellerin für ihre Leistung in Hong Sang-soos „On the Beach at Night Alone“, gab es doch bei den Frauenrollen bei diesem Festival viele starke Leistungen. Wie im Locarno-Sieger „Right Now, Wrong Then“ gliedert der Südkoreaner auch diesen Film in zwei Teile. Die erste Hälfte spielt in einer europäischen Küstenstadt, konkret in Hamburg, der zweite in einer südkoreanischen. In beiden Teilen steht eine junge Frau im Zentrum, die im ersten versucht durch Gespräche mit einer anderen Koreanerin über eine gescheiterte Beziehung mit einem verheirateten Mann hinwegzukommen und sich im zweiten Teil meist mit Bekannten beim Essen und Trinken über die Liebe, das Leben, die Freundschaft, über Männer und Frauen unterhält.
Hong filmt diese Gespräche in langen, genau kadrierten distanzierten Einstellungen, wobei sich die Kamera nur selten bewegt. Zweifellos ist das kunstvoll gemacht, doch dies kann so wenig wie der Umstand, dass hier der Regisseur auch seine eigene Affäre mit seiner Hauptdarstellerin Kim Min-hee verarbeitet, darüber hinwegtäuschen, dass die Gespräche im Grunde doch banal sind und kaum Interesse geweckt wird für die Figuren und ihre Situation.

„Wilde Maus“ und „Una mujer fantástica“
Beste Unterhaltung bot dagegen Josef Haders Regiedebüt „Wilde Maus“. Das österreichische Multitalent hat sich die Hauptrolle selbstverständlich auf den Leib geschrieben. Hader spielt einen seit über 20 Jahren fest angestellten Wiener Musikkritiker, der aus heiterem Himmel vom deutschen Chefredakteur zwecks Einsparung entlassen wird. Seiner Frau verschweigt er diese Demütigung, verbringt die Tage im Prater, wo er mit einem Schulkollegen die Achterbahn „Wilde Maus“ pachtet, und lebt nachts seine Aggressionen gegenüber seinem Ex-Chef in zunehmend drastischeren Vandalenakten aus.

Zügig treibt Hader die atmosphärisch dicht im Wiener Milieu verankerte Handlung voran, überrascht mit stets neuen – teilweise auch überzogenen – Wendungen, sorgt mit trockenen Dialogen für Witz und besticht durch prägnante Zeichnung der bis in die Nebenrollen hervorragend besetzten Figuren. Über pure Unterhaltung hinaus thematisiert die souverän zwischen Komik und Drama pendelnde Tragikomödie dabei auch die Angst der Mittelschicht vor einem sozialen Absturz und deckt die Wut und die Aggressionen auf, die Demütigungen auslösen können.
Der Chilene Sebastián Lelio fokussiert dagegen nach dem Hit „Gloria“ in dem mit dem Drehbuchpreis ausgezeichneten „Una mujer fantástica“ erneut auf einer Frau und zeichnet ein eindrückliches Porträt der hübschen Transgender-Frau Marina. Auf sich allein gestellt ist diese, als ihr etwa 20 Jahre älterer Geliebter plötzlich stirbt. Nicht nur die Familie des Verstorbenen grenzt sie aus und will ihr sogar den Besuch des Begräbnisses verbieten, sondern auch von den Behörden wird sie schikaniert.

Nicht nur eine entschiedene Abrechnung mit der machistischen chilenischen Gesellschaft und ein Plädoyer für Toleranz, sondern auch ein Mutmacher ist dieser konzentriert inszenierte und stark gespielte Film.
(Walter Gasperi)

Wichtigste Preise der 67. Berlinale

PREISE DER OFFIZIELLEN JURYS  
GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM Testről és lélekről - On Body and Soul
von Ildikó Enyedi
SILBERNER BÄR GROSSER PREIS DER JURY Félicité
von Alain Gomis
SILBERNER BÄR ALFRED-BAUER-PREIS
für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet
Pokot - Spoor
von Agnieszka Holland
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE Aki Kaurismäki
für Toivon tuolla puolen - Die andere Seite der Hoffnung
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE DARSTELLERIN Kim Minhee
in Bamui haebyun-eoseo honja - On the Beach at Night Alone
von Hong Sangsoo
SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN DARSTELLER Georg Friedrich
in Helle Nächte
von Thomas Arslan
SILBENER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH Sebastián Lelio und Gonzalo Maza
für Una mujer fantástica - A Fantastic Woman
von Sebastián Lelio
SILBERNER BÄR FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG aus den Kategorien Kamera, Schnitt, Musik, Kostüm oder Set-Design Dana Bunescu
für den Schnitt in Ana, mon amour
von Călin Peter Netzer
BESTER ERSTLINGSFILM Estiu 1993
von Carla Simón
PREISE DER INTERNATIONALEN KURZFILMJURY  
GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN KURZFILM Cidade Pequena
von Diogo Costa Amarante
SILBERNER BÄR PREIS DER JURY UND BERLIN SHORT FILM NOMINEE FOR THE EUROPEAN FILM AWARDS Ensueño en la Pradera
von Esteban Arrangoiz Julien

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