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Schlussbericht zum 64. Internationalen Filmfestival von Locarno. Von Walter Gasperi

Schlussbericht zum 64. Internationalen Filmfestival von Locarno. Von Walter Gasperi

Die ganz grossen Entdeckungen konnte man beim 64. Internationalen Filmfestival von Locarno nicht machen. Doch der Mix aus nicht immer ganz gelungenen, aber eigenwilligen Autorenfilmen im Wettbewerb und attraktiven Publikumsfilmen auf der Piazza überzeugte. Dazu brachte die starke Präsenz von Stars auch Glamour an den Lago Maggiore. Grosser Sieger des Wettbewerbs war Milagros Mumenthalers „Abrir puertas y ventanas“, der neben dem Goldenen Leoparden und dem Preis für die beste Darstellerin auch mehrfach von den unabhängigen Jurys ausgezeichnet wurde.

So viele Stars wie heuer sah man wohl selten zuvor beim Filmfestival Locarno: Daniel Craig, Harrison Ford, Isabelle Huppert, Gérard Depardieu, Bruno Ganz, Claudia Cardinale und Abel Ferrara, der zudem glaubte seine musikalischen Fähigkeiten demonstrieren zu müssen, konnte man auf der Piazza Grande live erleben. Problematisch scheint freilich, dass diese Präsenz vielfach mit der Verleihung von Ehrenpreisen erkauft werden muss. Inflationär vergeben sind die Preise an sich kaum mehr etwas wert.

Überzeugender Mix auf der Piazza
Schwächelte das Piazza-Programm in den letzten Jahren deutlich, so hat Olivier Père eine kluge Kurswende vorgenommen. Statt um jeden Preis Weltpremieren zu bieten, auch wenn das Niveau der verfügbaren Filme nicht entspricht, setzt der Franzose auf einen Mix: Blockbuster wie „Cowboys and Aliens“ und kleine Genrefilme wie „Attack the Block“, laufen hier neben schon in Cannes gezeigten Perlen wie Aki Kaurismäkis wunderbar warmherzigem und märchenhaftem „Le Havre“. Und dazwischen wurden noch Weltpremieren kleinerer Filme eingestreut. Das frankophile Publikum erfreute man mit der typisch französischen Liebeskomödie „L´art d´aimer“, für die zahlreichen deutschen Touristen programmierte man Achim von Boerris „4 Tage im Mai“. Über eine biedere Geschichtslektion kam dieser Film über eine Episode, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs an der Ostseeküste abspielte, zwar kaum hinaus, doch dafür entschädigte wieder Philippe Falardeaus „Bachir Lazhar“. Etwas zu glatt, aber auch sehr rund und feinfühlig erzählt der Kanadier darin von einem algerischen Flüchtling, der in einer Quebecer Grundschule nach dem Selbstmord einer Lehrerin eine Vertretungsstelle antritt. Im sorgfältigen Aufbau und in der sanften, aber doch bestimmten Auseinandersetzung mit Migration, Verdrängung und Trauerarbeit kündigt sich hier ein Arthouse-Hit an.

Unverständlich bleibt dagegen, was die kuriose japanische Nummernrevue „Saya Zamurai“, in dem einem verhafteten Samurai 30 Tage Zeit gegeben werden den traurigen Sohn eines Clanfürsten zum Lachen zu bringen, auf der Piazza zu suchen hat. Ein Ärgernis war auch „Sport de filles“, den man wohl nur aufgrund der Verleihung eines Ehrenpreises an Bruno Ganz ins Programm nahm. Der Schweizer Schauspieler ist denn auch das Beste an diesem Dressurreiter-Film, der wohl sofort wieder in den Regalen verschwinden und allenfalls im Fernsehen wieder auftauchen wird.

Stiller Siegerfilm, Beglückendes aus Japan
Ganz frei von solchen Tiefschlägen war auch der Wettbewerb nicht, wie das hilflos inszenierte israelische Beziehungsdrama „Tanathur“ belegt. Wohl kaum künstlerische Qualität als vielmehr der Umstand, dass Tawfik Abu Waels zweiter Spielfilm im Rahmen von Locarnos „Open Doors“ und unter Beteilung von DEZA entstanden ist, brachten diese Produktion wohl in den Wettbewerb um den Goldenen Leoparden. Ansonsten kann man mit den heurigen Wettbewerbsbeiträgen aber durchaus zufrieden sein. Verschont blieb man von Belanglosigkeiten, zahlreich waren dafür die Filme, die nach einer eigenen filmischen Sprache suchten.

Dazu gehört auch Milagros Mumenthalers mit dem Goldenen Leoparden, dem Darstellerpreis für Maria Canale sowie dem Filmkritikerpreis und zwei lobenden Erwähnungen ausgezeichnetes Debüt „Abrir puertas y ventanas“. Die in der Schweiz aufgewachsene argentinische Regisseurin erzählt von drei Schwestern, die an der Schwelle zum Erwachsenenalter stehen. Nach dem Tod der Grossmutter igeln sie sich im Stadthaus ein, das sie kaum verlassen. Besucher werden abgewimmelt. Mumenthaler bleibt zurückhaltende Beobachtern des Trios, hält in langen Einstellungen und ruhigen Schwenks Nähe, Machtspielchen und Eifersüchteleien zwischen den drei Schwestern fest, von denen die älteste so etwas wie die Mutterrolle übernehmen will. Eindrücklich evoziert die 34-jährige Regisseurin den Zustand des Stillstands, der doch ganz langsam und leise von Bewegung abgelöst wird. – Mit grosser Konsequenz ist das zwar inszeniert, stellt in der Ereignislosigkeit bei einer Länge von 100 Minuten die Geduld des Zuschauers aber auch auf die Probe.

Als beglückender erwies sich da doch „Tokyo Koen“. Nicht nur für diesen Film, sondern ausdrücklich auch für sein „bemerkenswertes Filmschaffen“ wurde Shinji Aoyama mit dem „Pardo d’oro speciale della giuria“ ausgezeichnet. Federleicht, wie man es sonst fast nur von französischen Filmen kennt, erzählt der Japaner von einem jungen Mann, der in den Parks von Tokio heimlich Frauen und Familien fotografiert. Seltsam angezogen fühlt er sich vor allem von einer dieser Frauen und durch den Kamerablick auf sie ändert sich auch sein Blick auf eine Jugendfreundin und seine Stiefschwester. Allein schon die Parks von Tokio verleihen diesem Film eine Ruhe und Gelassenheit, die durch die verspielte Inszenierung und den liebevoll-sanften Blick auf die Protagonisten noch gesteigert wird. Kein anderer Film im Wettbewerb von Locarno hat den Zuschauer wohl so gelöst und mit einem Lächeln aus dem dunklen Kinosaal entlassen.

Die Preise des 64. Festival del film Locarno

INTERNATIONALER WETTBEWERB

Goldener Leopard für den besten Film
«Abrir puertas y ventanas», Milagros Mumenthaler, AR/CH
Goldener Spezial-Leopard der Jury
Shinji Aoyama für «Tokyo Koen», JP
Leopard für die beste Regie
Adrin Sitaru für «Din dragoste cu cele mai bune intentii», RO/HU
Spezialpreis der Jury
«Hashoter», Nadav Lapid, IL
Silberner Leopard für die beste Darstellerin
Maria Canale für «Abrir puertas y ventanas», AR/CH
Silberner Leopard für den besten Darsteller
Bogdan Dumitrache für «Din dragoste cu cele mai bune intentii», RO/HU
Besondere Erwähnung
«Un amour de jeunesse», Mia Hansen-Løve, FR/DE
 
   
Preis Fipresci der int. Filmkritiker
«Abrir puertas y ventanas», Milagros Mumenthaler, AR/CH
Preis der ökumenischen Jury
«Vol spécial» Fernand Mélgar, CH
   
Cicae Prix Art & Essai
«Onder ons», Marco von Geffen, PL/GB/FR
Prix FICC/IFFS
«Sette opere di misericordia», Gianluca und Massimiliano De Serio, IT/RO
Jugend-Jury  
1. Preis der Jugend-Jury
«Vol spécial» Fernand Mélgar, CH
 
2. Preis der Jugend-Jury
«Sette opere di misericordia», Gianluca und Massimiliano De Serio, IT/RO
 
3. Preis der Jugend-Jury
«Terri», Azazel Jacoby, US
 
   

CONCORSO CINEASTI DEL PRESENTE

Goldener Leopard Cineasti del presente
«L'estate die Giacomo», Alessandro Comodin, IT/FR/BE
Spezialpreis der Jury Cine+
«El estudiante», Santiago Mitre, AR
Besondere Erwähnung
«E na terra nao e na luna», Gonçalo Tocha, PT
Leopard für das beste Erstlingswerk
«Nana», Vlérie Massedian, FR
   
Semaine de la Critique  
Preis SRG SSR
«Messies, ein schönes Chaos», Ulrich Grossenbacher, CH
Besondere Erwähnung
«Sketches os Myahk», Koichi Onishi, JP
   
Piazza Grande  
Publikumspreis
«Bachir Lazhar», Philippe Falardeau, CA
Variety Piazza Grande Award
«Bachir Lazhar», Philippe Falardeau, CA
   

PARDI DI DOMANI

Pardino d'oro für den besten int. Kurzfilm
«Rauschgift», Peter Baranowski, DE
Pardino d'argento für den zweitbesten int. Kurzfilm
«Les enfants de la nuit», Caroline Deruas, FR
Besondere Erwähnung
«Mens sana in corpore sano», Juliano Dornelles, BR
 
   
Jugend-Jury-Preis für den besten int. Kurzfilm
«Opowiesci z chlodni», Grzegorz Jaroszuk, PL
Kurzfilmnominierung für Europ. Film Awards
«Opowiesci z chlodni», Grzegorz Jaroszuk, PL
   
Untertitelungs-Preis
«Liberdade», Gabriel Abrantes und Benjamin Crotty, PT
 
   
Pardino d'oro für den besten Schweizer Kurzfilm
«L'ambassadeur & moi», Jan Czarlewski
Pardino d'oro für den zweitbesten Schweizer Kurzfilm
«Le tombeau des filles», Carmen Jaquier
   
Jugend-Jury-Preis für den besten Schweizer Kurzfilm
«L'ambassadeur & moi», Jan Czarlewski
Action-Light-Preis für Schweizer Nachwuchstalent
«À quoi tu joues», Jean Guillaume Sonnier