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Saint Omer

FR 2022, F/d, 122', Regie: Alice Diop, mit Kayije Kagame, Guslagie Malanda, Valérie Dréville

Saint Omer

Streaming - Release: 08.09.23 auf filmingo.ch

Filmkritik von Walter Gasperi

Nach einem wahren Fall zeichnet Alice Diop in ihrem Spielfilmdebüt, das unter anderem in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet und von Frankreich ins Oscar-Rennen geschickt wurde, den Prozess gegen eine aus dem Senegal stammende junge Kindsmörderin nach: Ein spartanisch inszeniertes, aber konzentriertes und fesselndes Gerichtsdrama, das Fragen der Differenz zwischen Kulturen und Geschlechtern, Migration, Erwartungsdruck und Rassismus thematisiert.

Die Dokumentarfilmerin Alice Diop verfolgte nach eigenen Aussagen 2016 persönlich den Prozess gegen die aus Senegal stammende Fabienne Kabou, die gestanden hatte ihre 15-monatige Tochter getötet zu haben, indem sie sie bei Flut an der Atlantikküste ausgesetzt hatte.

In Diops erstem Spielfilm ist die junge, senegalesisch stämmige Dozentin und Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) quasi das Alter Ego der Regisseurin. Wie Diop einst in der Realität so reist Rama in der Nachinszenierung des Falls ins nordfranzösische Saint Omer zum Prozess gegen die wegen Kindesmords angeklagte frühere Philosophiestudentin Laurence Coly (Guslagie Malanda).

Dass diese gerade über Ludwig Wittgenstein dissertieren wollte, ist dabei kein Zufall. Dessen berühmtester Spruch "Worüber man nicht sprechen kann, muss man schweigen" verweist auch auf die Tat, die auch Laurence selbst unerklärlich ist und über deren Ursachen gerade sie selbst vom Prozess Erklärungen erhofft.

Vorangestellt ist diesem Prozess aber nicht nur eine Szene in der eine afrikanische Mutter mit ihrem Baby nachts zu lautem Meeresrauschen einem Strand entlang geht, sondern auch das Erwachen Ramas aus einem Alptraum. – Zwei Frauen werden hier in Beziehung gesetzt, deren direkter Kontakt sich aber auf einen kurzen Blickwechsel beschränken wird. Die eine wird auf der Anklagebank sitzen, die andere im Zuschauerraum - und dennoch wird Diop ihre Geschichten sukzessive verzahnen.

Wenn Rama bei einer Vorlesung schwarzweiße Archivaufnahmen von Kollaborateurinnen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs durch Scheren ihrer Haare geächtet wurden, mit Passagen aus Marguerite Duras´ Text für Alain Resnais´ "Hiroshima, mon amour" verbindet, wird schon eine zentrale Thematik von "Saint Omer" angeschnitten. Denn wie es in Resnais´ Meisterwerk auch um die Differenz zwischen Europa und Japan geht, so geht es in Diops Spielfilmdebüt zunehmend auch um die kulturelle Differenz zwischen Afrika und Europa, aber auch um die Rolle der Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft und schließlich auch um Mutterschaft.

Der Auftakt des Prozesses stimmt dabei auch schon auf die spartanische Inszenierung ein. In der minutiösen Schilderung der Auswahl der Geschworenen spürt man Diops Herkunft vom Dokumentarfilm. Kaum eine Kamerabewegung gibt es hier, auf Filmmusik wird verzichtet, lange halbnahe Einstellungen dominieren.

Wenn im Folgenden die Angeklagte zu ihrer Kindheit, ihrer Migration nach Frankreich, ihrem Philosophiestudium und zu ihrer Beziehung zum mehr als doppelt so alten Kindsvater befragt wird, verzichtet Diop auch auf jede Rückblende. So sehr hier aber auch das Wort dominiert, es praktisch nichts außer den Gesichtern der Angeklagten, der wenigen Zeugen oder der Vorsitzenden zu sehen gibt, so packend und dicht ist "Saint Omer" doch, dank der konzentrierten und präzisen Inszenierung und eines herausragenden Ensembles.

Sukzessive wird hier in den Verhören die Entwurzelung Laurences, die Hexerei oder einen Fluch als Grund für ihre Tat angibt, durch die Migration spürbar, die Vereinsamung in Frankreich und das langsame Zerbrechen an der hohen Erwartungshaltung, die ihre Mutter von klein auf an sie stellte.
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