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Kino Xenix: [September 2020] Brasil: Novissimo Cinema und True Crime Reloaded

Kino Xenix: [September 2020] Brasil: Novissimo Cinema und True Crime Reloaded

von: Kino Xenix; aufgeschaltet am 27.08.2020 15:54

Brasil: Novissimo Cinema
https://www.xenix.ch/programm/september-2020/brasil-novissimo-cinema

Wenn es nach Brasiliens aktuellem Präsidenten Jair Bolsonaro ginge, wären die Filme in diesem Monatsprogramm nicht einmal produziert worden. Dabei waren brasilianische Filme in den letzten Jahren erfolgreich an vielen internationalen Filmfestivals vertreten. Dies ist das Ergebnis einer ausgereiften staatlichen Förderungspolitik durch die nationale Filmagentur Ancine – neben viel Arbeit und Herzblut aller Beteiligten. Doch nachdem die Filmschaffenden im politischen Klima der letzten Jahre dazu aufgefordert worden sind, neue Wege zu gehen und andere Ästhetiken zu erforschen, gibt es heute eine starke Verunsicherung in der Industrie. Bolsonaros rechte Politik gefährdet die erfreuliche Entwicklung.

Bereits während der Demonstrationen zur Amtsenthebung der vorherigen Präsidentin Dilma Rousseff (THE TRIAL von Maria Ramos führt uns durch die Tage des Prozesses) zeichnete sich eine Polarisierung ab. Eine Metallwand trennte die Esplanada dos Ministérios in Brasília in zwei Hälften. Sie wurde installiert, um die Sicherheit der Demonstrierenden für und gegen die Regierung zu gewährleisten. Die Teilung vor dem Nationalkongress symbolisierte deutlich die ideologische Spaltung des Landes.

Um das brasilianische Kino zu begreifen, muss auch die Herkunft der Bevölkerung Brasiliens verstanden werden. Von den rund 211 Millionen Menschen sind 45  Prozent weiss, 45 Prozent braun, 9 Prozent schwarz und 1 Prozent indigen. Diese multikulturelle Zusammensetzung ist einzigartig. Bevor jedoch die Idee einer spezifisch brasilianischen Identität entstand, galt das rein europäische Ideal der weissen und gut ausgebildeten Elite. Doch dann legte die modernistische Avantgardebewegung eine wichtige Basis für das brasilianische Selbstverständnis. Die Grundidee im «Anthropophagischen Manifest» von 1928 gilt dem Konzept des kulturellen Kannibalismus: So wie die indigene Bevölkerung Brasiliens früher glaubte, dass sie durch das Essen eines Menschen seine Kräfte erwerbe, so beinhaltet die Anthropophagie die Idee, das Fremde zu verdauen und so durch das Verschlingen der andersartigen Kultur ein neues Selbstbild zu gewinnen. Eines, das durch und durch brasilianisch ist.

Diese Vielfalt widerspiegelt sich im aktuellen brasilianischen Kino, seinen Figuren, Bildern und Geschichten so stark wie niemals zuvor: Beispielsweise sind Indigene in diesem Filmprogramm vertreten, zu einer Zeit, in der die Verkleinerung ihres Landes stark vorangetrieben wird, um es für die Rodung des Regenwaldes zu vermarkten. Sowohl Maya Da-Rins A FEBRE (THE FEVER) als auch CHUVA É CANTORIA NA ALDEIA DOS MORTOS (THE DEAD AND THE OTHERS) von Renée Nader Messora und João Salaviza zeichnen einfühlsame und ästhetisch pointierte Porträts indigener Menschen und zeigen auf, wie sie sich in das Universum der Weissen einfügen.

Auch schwarze Filmschaffende sind heute besser vertreten als zuvor. André Novais Oliveira gründete 2009 mit Freunden die Produktionsfirma Filmes de Plástico im Bundesstaat Minas Gerais. Die vielen Filme des Kollektivs, darunter TEMPORADA (LONG WAY HOME), bringen diejenigen Menschen ans Licht, die normalerweise aus der Filmgeschichte gelöscht werden. Im Fall von TEMPORADA ist es eine schwarze Frau um die dreissig, die in einer Gruppe von staatlich beauftragten Kammerjägern sozialen Anschluss findet. Viele der Schauspielerinnen und Schauspieler sind mit Novais befreundet und wohnen im Viertel, in dem die Dreharbeiten stattfanden. Die Dezentralisierung der Filmproduktion weg von Rio de Janeiro und São Paulo war eine weitere positive Folge der guten staatlichen Förderpolitik. Durch die lokale Verankerung der Filme wird die brasilianische Lebensrealität ohne Klischees und Stereotype sichtbar.

Anna Muylaert zeigt in THE SECOND MOTHER (QUE HORAS ELA VOLTA?) die Machtverhältnisse und Privilegien der Mittelschicht: Val «gehört beinahe zur Familie», für die sie als Haushälterin arbeitet. Als plötzlich ihre zurückgelassene Tochter in der Stadt studieren will und zur Mutter zieht, begrüssen Vals Hausherren sie mit offenen Armen, doch ihr forderndes Verhalten erzeugt Spannungen im Haus. Neben der Entfremdung von der eigenen Tochter zeigt der Film auf präzise und humorvolle Weise die ungeschriebenen Regeln der Klassenbeziehungen auf. Auch AS BOAS MANEIRAS (GUTE MANIEREN) beleuchtet die Beziehung zwischen einer weissen Arbeitgeberin und ihrer schwarzen Bediensteten. Dafür vermischt das Regie-Duo Juliana Rojas und Marco Dutra gekonnt und unverfroren verschiedene Genres, baut Sequenzen von rein visuellem Vergnügen ein und ermöglicht ein wörtlich anthropophagisches Eintauchen in diesen zeitgenössischen brasilianischen Film.

«Querência» bezeichnet den Ort, an dem Rinder weiden oder sich während des Rodeos aufhalten. Der gleichnamige Film von Helvécio Marins Jr. basiert auf einem realen Viehdiebstahl in Minas Gerais, der den Hauptdarsteller Marcelo traumatisiert hat. Die kontemplative und dokumentarische Kamera zeigt Marcelos Alltag und seine Melancholie. Alle Rollen in QUERENCIA (HEIMKEHREN) werden von Freunden des Regisseurs gespielt, der die Landmenschen ohne Stereotype und mit grosser Sensibilität porträtiert. Der ebenfalls auf dem Land spielende und letztes Jahr besonders aufgefallene Cannes-Preisträger BACURAU ist so aktuell, dass seine Regisseure von der Regierung attackiert werden, auch wenn der Film schon lange vor der rechten Machtübernahme angedacht war. Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles begannen ihren brasilianischen Sensations-Western aus einem abstrakten Gefühl, einer Vorahnung heraus, die sich in der politischen Situation allmählich in reale Angst verwandelte. BACURAU ist ein antiimperialistischer Film, der in einem typisch brasilianischen Dorf spielt. Der Film macht Gebrauch von genre-spezifischen Mitteln, die es erlauben, über Gemeinschaften und Menschen zu sprechen, ohne einen offen sozialkritischen Film zu realisieren.

Während der Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 andauerte, wurden Schimpfwörter, Sexszenen und aussereheliche Beziehungen im Film generell zensuriert. Dies zwang die Filmschaffenden, neue Mechanismen und Bildsprachen zu entwickeln, um die Zensur zu umgehen. MARIGHELLA von Wagner Moura basiert auf einer Biografie von Carlos Marighella, der als Feind Nummer eins gegen die Diktatur kämpfte. Aktuell brisant ist die Tatsache, dass der Film eine deutliche Kritik an der Diktatur übt, die Bolsonaro heute noch als Revolution bezeichnet. In den Augen des Präsidenten wirkt es so, als handle es sich nicht um einen Film, sondern als wäre Marighella selbst auferstanden. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen.

Im Jahr 2018 wurde Jair Messias Bolsonaro mit mehr als 55 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Sein Wahlkampfmotto lautete «Brasilien über alles, Gott über allem». Die Dystopie DIVINO AMOR von Gabriel Mascaro spielt im Jahr 2027 und erzählt von einem Land, das von religiösem Fanatismus geprägt ist.

Einmal gewählt, äusserte Bolsonaro seine Absicht, die Förderagentur Ancine mit «Filtern» zu versehen, um das «Niveau» der Produktionen zu erhöhen. Noch klarer war er bei LGBT-Produktionen: «Es hat keinen Sinn, Filme über diese Themen zu realisieren. Es ist weggeworfenes Geld.» Um das traditionelle Familienbild intakt zu halten, wird Gewalt gegen Gruppen, die von dieser Norm abweichen, akzeptiert und gefördert. Das resultiert in der höchsten Mordrate von Trans-Personen weltweit. Im Jahr 2019 forderte die Transphobie in Brasilien 124 Opfer, was ein Todesopfer alle drei Tage bedeutet. Im Dokfilm BIXA TRAVESTY (TRANNY FAG) von Kiko Goifman und Claudia Priscilla verwendet die charismatische Sängerin und Transfrau Linn da Quebrada ihren 
Körper und ihre Musik für den politischen Widerstand und fordert damit ihr Recht auf Existenz. Auch im starken, melodramatischen THE INVISIBLE LIFE OF EURIDICE GUSMAO geht es um unterdrückte Verwirklichung, hier im biederen, portugiesisch geprägten Milieu von Rio Janeiro in den Fünfzigerjahren. Zwei Schwestern werden auf manipulative Weise getrennt und daran gehindert, die Träume zu leben, die sie als Teenager gemeinsam gehegt hatten. Obwohl der Film als Vertreter Brasiliens bei der Nominierung für den Oscar für den besten internationalen Film gewählt wurde, wurde die interne Präsentation bei Ancine abgesagt. Als Grund nannte man einen defekten Beamer.

Letztes Jahr wurde dem Fonds für den audiovisuellen Sektor (FSA), der die Industrie mit umgerechnet über 130 Millionen Franken pro Jahr speist, der Geldhahn zugedreht. Dadurch kam die Produktion von 400 Filmen und TV-Serien zum Stillstand.

Allein im ersten Quartal des Jahres 2020 wurden 34 Filme auf den Festivals von Sundance, Rotterdam und Berlin gezeigt, ein historischer Moment für das brasilianische Kino. Aber die Regierung versteht es nicht als Anerkennung der Qualität. Ihr ist ausschliesslich wichtig, dass ihre Moral und gute Sitten in der Fiktion und dadurch im Leben gewahrt werden. Es bleibt zu hoffen, dass sich die brasilianischen Filmemacherinnen und -macher weiterhin nicht 
zum Schweigen bringen lassen. (Humberto Moureira)




True Crime Reloaded
https://www.xenix.ch/programm/september-2020/true-crime-reloaded

«True Crime Reloaded» nimmt mehrheitlich diejenigen Filme des Monatsprogramms «True Crime» wieder auf, die im März 2020 wegen der Corona-Pandemie und der daraus folgenden Schliessung des Kinos nicht gezeigt werden konnten.

Das Kino, traditionell Ort des Überhöhten und Verschönten, zeigt sich in der «True Crime»-Sparte von seiner düsteren Seite: Hier wendet es seinen Blick (angeblich) wahren Kriminalfällen zu, die auch beim Publikum seit Beginn des Kinos auf eine morbide Faszination stossen. Wohl darum beschäftigte sich schon Fritz Lang in M (1931) mit den in den Zwanzigerjahren begangenen Verbrechen des «Vampirs von Düsseldorf», wie die Presse den Serienmörder Peter Kürten damals nannte. Langs erster Tonfilm lässt nach den Beweggründen des Täters fragen – befriedigende Antworten dafür liefert das Kino allerdings selten. Stattdessen stellt «True Crime» immer wieder fest, dass die Verbrecher durch nichts auffallen: Das, was man am Rande der Gesellschaft vermutet, findet eigentlich im Zentrum statt. Fritz Lang wollte seinen Film 1931 daher «Mörder unter uns» nennen, der Nazipartei soll die Suggestion des Titels angeblich missfallen haben, weshalb er ihn auf den einen ominösen Buchstaben kürzte.

Über siebzig Jahre später lässt David Finchers ZODIAC (2007) vermuten, dass Obsessionen nicht nur Mördern vorbehalten sind: Die Fahndung nach dem berüchtigten Zodiac-Killer im San Francisco der Sechziger gestaltet sich wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Schon MEMORIES OF MURDER (2003) folgte dieser Logik, wobei die Geschichte, in der Regisseur Bong Joon-ho von einer Mordserie in der südkoreanischen Provinz erzählt, bereits mit dem Sinn für Absurdes und Groteskes inszeniert ist, der auch seinen PARASITE (2019) im vergangenen Jahr zum weltweiten Erfolg machte.

Hannes Baumgartners DER LÄUFER (2018) zeigt, wie nahe sich das «Böse» und die Normalität sind und dass «True Crime» stets auch mit Vertrautheit spielt: Es gelingt uns kaum, hinter die Fassade von Jonas (Max Hubacher) zu blicken, dort Motive auszumachen, und doch weichen wir ihm den Film hindurch nicht von der Seite – beobachten die Eskalationsstufen, während das Umfeld, die Mietwohnung, die Berner Innenstadt allzu bekannt erscheinen. «How can a perfectly sane man commit an absolutely crazy act?», wird passend dazu schon im Voice-over in In Cold Blood (1967) gefragt, der, nach einer Romanvorlage Truman Capotes inszeniert, den brutalen Mord an einer gesamten Familie im Kansas der Fünfzigerjahre mit einer für 1968 verblüffenden Menge an Brutalität, Melancholie, aber auch Feinfühligkeit nachzeichnet. Wenig später entstandene Klassiker des Genres, Arthur Penns BONNIE AND CLYDE (1967) und Terrence Malicks BADLANDS (1973), kreisen um dieselbe Frage – und finden einen Teil der Antwort in der Hoffnung seiner kriminellen Protagonistinnen und Protagonisten auf ein besseres Leben, auf Ruhm, eine Flucht vor dem öden Alltag und der Bedeutungslosigkeit.

Um eine solche Flucht geht es auch in MONSTER (2003), der Fragen nach Schuld und Unschuld hinter sich lässt, um die Taten der Serienmörderin Aileen Wuornos so nachzuzeichnen, dass auch Sympathie evoziert wird – ein Gefühl, das für das «True Crime»-Publikum öfter konfliktreich durchgespielt wird. I, TONYA (2017) sucht nach ähnlichen Konstellationen, stellt Fragen zu Status, vielleicht zu Frauenfeindlichkeit im professionellen Sport: Tonya Harding(Margot Robbie) gehört zur Unterschicht, mischt mit ihrer Art das Eiskunstlauf-Establishment auf, was sie nach dem Ereignis damals, das ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan die Teilnahme an der Meisterschaft kostete, zum gefundenen Fressen machte. Gemeinsam mit Patty Jenkins’ MONSTER zeigt das Biopic, dass «True Crime» in fiktionalisierter Form Schauspiel-Kino ist, leben die Filme doch von brillanten Darstellungen ihrer Hauptfiguren, deren Agieren die emotionalen Grauzonen um das Verbrechen navigieren muss. Kein Wunder, hat Charlize Theron 2004 den Oscar als beste Hauptdarstellerin für ihre Darbietung von Wuornos erhalten, Margot Robbie war für ihre Interpretation von Tonya 2018 immerhin nominiert.

Wenn «True Crime» nach der Rolle der Medien im Umfeld solcher Kriminalfälle fragt, entfaltet sich selbstreflexives Potenzial, ist das Kino doch selbst nicht unschuldig am Kritikpunkt, dass Täter und Tat verherrlicht, geradezu fetischisiert werden. In THE THIN BLUE LINE (1988) dröseln mehrfache Reenactments das Vergangene und Vergessene minutiös auf, die Möglichkeit von «Wahrheit» schlechthin wird hinterfragt und so das Genre zugleich dekonstruiert. Auch im skandalträchtigen B-Movie HENRY: PORTRAIT OF A SERIAL KILLER (1986) findet sich ein raffinierter Umgang mit Sichtbarem und Verborgenem: Eine besonders fantasiereiche wie verstörende gleitende Kameraeinstellung zeigt das Ergebnis eines Mords, lässt aber auf der Tonspur das gerade Geschehene, die grausame Tat, noch erahnen. Der Film wurde mit geringen Mitteln produziert, was ihm nichts an Wirkkraft nimmt; schnell wurde er zum Kultfilm und in zahlreicher Ländern auf den Index verbannt. Die Parallelen zu C’EST ARRIVÉ PRÈS DE CHEZ VOUS (1992) sind deutlich, löste der belgische Film, der hier unter dem Titel MAN BITES DOG bekannt wurde, ob der Gewaltdarstellungen seinerseits Skandale aus, wobei er – als bitterböse Satire und Mockumentary – die Lust am brutalen Spektakel eigentlich kritisiert.

M (2018) von Yolande Zauberman, ein trauriges und zugleich poetisches Dokument des Missbrauchs in jüdisch-orthodoxen Gemeinschaften, lenkt den Blick weg von den Tätern, schenkt die Aufmerksamkeit endlich den Opfern und fragt nach gesellschaftlichen Strukturen, die solchen Verbrechen überhaupt als Nährboden dienen können. An Kontexten sind auch Claire Denis’ J’AI PAS SOMMEIL (1994) und Spike Lees SUMMER OF SAM (1999) interessiert: In Paris respektive der Bronx spielend, sind auch hier nicht Täter und Polizei als Antagonisten ins Zentrum gerückt, sondern – via fiktionale Geschichte im Umfeld berühmter Mordserien – die Dynamiken des jeweiligen Umfelds. Arbeitermilieus, Punks, Gay- und Transszenen sind von der Umtriebigkeit der Täterinnen und Täter unmittelbarer betroffen als etwa eine distanzierte Oberschicht, die sich Sicherheit oder Freiheit kaufen kann. Diese rückt in AQUI NO HA PASADO NADA (2016) ins Bild, der sich an einer wahren Begebenheit im Umfeld der chilenischen Elite abarbeitet und voller Brisanz aufzeigt, inwiefern Korruption und Geld mit Schuld und Unschuld interagieren. Um die Verbandelung von Politik und Verbrechen geht es auch in Sabine Gisigers und Marcel Zwinglis DO IT, der, 2000 in der Schweiz entstanden, als Dokumentarfilm zu anarchistischen «Terrorzellen» im Zürich der Siebzigerjahre das Thema erneut vor die Haustür bringt.

Die Frage nach der Herkunft des Verbrechens, nach Biografie und Kontext, nach Impuls und Lust stellt sich nochmals in Bart Laytons Dokumentarfilm THE IMPOSTER (2012), der die unglaubliche Geschichte eines Franzosen nachzeichnet, dem es gelingt, sich durch herzlosen Betrug jenseits des Atlantiks eine neue Biografie, ein neues Leben zu verschaffen. Hier wird deutlich, was in den anderen Filmen oft Subtext war: Verbrecherin oder Verbrecher sein heisst auch, eine Rolle zu spielen, jemand anderes sein zu wollen – wahrscheinlich vertragen sich das Kino und die «True Crimes» deshalb so gut. Der Betrüger in The Imposter erscheint zugleich als Täter und Opfer, die Frage von Sympathie erneut komplizierend, denn wer kann es ihm übel nehmen, dass er sich am viel propagierten American Dream mit unlauteren Mitteln versucht? Mit solchen Konstellationen führt uns «True Crime» nicht zuletzt zu den Bedingungen unserer eigenen Gesellschaft zurück, von der die porträtierten Taten die Kehrseite sind. Fast zwangsläufig werden im Kino dann nicht mehr nur die Verbrechen betrachtet, sondern – durch diese hindurch – auch das System, in dem sie stattfinden. Und das ist es, was in den Bann der «True Crime»-Filme zieht: Sie zeigen eigentlich Hoffnungen, Wünsche, Gelüste unserer Gesellschaft – aber aus Sicht ihrer verstossenen Kinder. (Selina Hangartner)

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Programm September 2020