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Festival Visions du réel, Nyon. Schlussbericht von Geri Krebs

Festival Visions du réel, Nyon. Schlussbericht von Geri Krebs

Die Abschiedsveranstaltung der Festivalleiter Jean Perret und Gabriela Bussmann bot ein überreiches Programm, das eindrücklich die vielfältigen Möglichkeiten des Dokumentarfilms aufzeigte.

Es war die Abschiedsvorstellung des Powercouples Jean Perret/Gabriela Bussmann. Nach 16 Jahren verlassen die beiden das Festival, das sie 1995 unter dem Namen Visions du réel neu gegründet und mit eiserner Hand geführt haben. Es sei wohl das „beste Dokumentarfilmfestival der Welt“ verstieg sich Gabriela Bussmann am Eröffnungstag in einer Sendung am Staatsradio zu bester Sendezeit und befremdete mit solchen Aussagen all jene, die die Qualitäten dieses Festivals am Schnittpunkt zwischen Dokumentation, Essay und Fiktion auch ohne derartige Übertreibungen zu schätzen wissen. Der neue künstlerische Leiter, der 61-jährige Italiener Luciano Barisone – der vielfach ohnehin nur als Übergangsfigur gesehen wird – wird es jedenfalls alles andere als leicht haben, jene Lücke zu schliessen, die der Weggang von Jean Perret und Gabriela Bussmann bedeutet.

Und es war auch in diesem speziellen Jahr ein überreiches Programm, das mit gut 160 Filmtiteln - von denen einzig die Wettbewerbsfilme mehr als ein einziges Mal gezeigt wurden - die Wahl zur Qual werden liess. Der Gewinner des Hauptpreises, „Into Eternity“ des Dänen Michael Madsen, der sich der Problematik der Endlager radioaktiver Abfälle annahm, war ein typisches Beispiel dafür, was die Stärken des Festivals von Nyon ausmacht: Eine minutiöse Recherche mit präzisen Aussagen, dazu eine spannende Dramaturgie, die jedem Spielfilm zur Ehre gereicht hätte, und dies in Verbindung mit einer Ästhetik, die an Andrej Tarkovski erinnerte. Mit einem solch kühnen Mix von auf den ersten Blick unvereinbar scheinenden Elementen zeigt Visions du réel immer wieder eindrücklich, was cinema du réel sein kann.

Politische Dokumentarfilme
Traditionell stark ist das Festival in seinen politischen Dokumentarfilmen von Brennpunkten und Konfliktherden, die einem aus der Fernsehberichterstattung geläufig sind, jedoch nichts mit deren Flüchtigkeit zu tun haben. In diesem Jahr waren dies einerseits eine ganze Reihe von Filmen aus dem Iran in diversen Sektionen, allesamt realisiert von Regisseuren und Regisseurinnen, die mittlerweile im Ausland leben.

Herausragend war hier beispielsweise „Salaam Isfahan“ von Sanaz Azari, die ein vielschichtiges Stimmungsbild ihrer Heimatstadt Isfahan am Vorabend der schicksalsschweren Wahl vom 12. Juni 2009 schaffte, indem sie ganz zwangsläufig Passanten bittet, sich für „einen Dokumentarfilm in Belgien“ fotografieren und befragen zu lassen. Das war von ähnlich atemloser Unmittelbarkeit und Tiefe wie die Kriegsreportage „Something About Georgia“ von Nino Kirtadze, die hier unter anderem ihre Freundschaft zum aktuellen georgischen Präsidenten Schakaschwili in kluger Weise dazu nutzt, eine kritische Nähe zur Macht herzustellen und gleichzeitig Bilder vom Schrecken der russischen Aggression vom August 2008 zu vermitteln, wie man sie so kaum für möglich gehalten hätte. Das war dennoch fern von jeglicher Sensationssuche, sondern ging unter die Haut in der Art und Weise, wie hier Grossmachtarroganz und die verheerenden Folgen für die einfachen Menschen erfahrbar wurden.

Chinesische Bauern und Lou Reed
Wie in einer ganz anderen Region der Welt einfache Menschen ihre Umgebung dokumentieren und daraus unter Anleitung eines Meister seines Faches spannendes Kino gestalten, dies bewiesen schliesslich die beiden chinesischen Dokumentarfilme „My Village 2007“, die von zwei Bauern, Wang Wei und Shao Yuhzen, unter der Anleitung des charismatischen Pekinger Cineasten Wu Wenguang entstanden waren. Die Präsenz des Meisters und seiner beiden ungewöhnlichen Schüler in Nyon anlässslich des „Ateliers Wu Wenguang“ veranlasste schliesslich Jean Perret zu einem berechtigten Seitenhieb gegen die Mechanismen des Medienbetriebes, indem er sich über das schematische Denken vieler Journalisten aufregte, die alle nur nach Lou Reed fragten und dabei übersähen, dass zwei chinesische Bauernfilmer vielleicht mindestens so interessant seien. Das war berechtigt, denn der Kurzfilm von Lou Reed über seine fast hundertjährige Tante Shirley („Red Shirley“) war nett, aber hätte sicher niemanden interessiert ohne das Etikett des berühmten Rockstars.

Schweizer Filme in Nyon
Von den Schweizer Filmen in den diversen Sektionen war Nicolas Wadimoffs „Aisheen (Still Alive in Gaza)“ über eine Reise nach Gaza, wenige Wochen nach dem verheerenden Krieg vom Jahreswechsel 2008/2009, eines der Highlights politischer Filme, während „Beyond This Place“ von Kaleo La Belle als sehr persönliches Zeugnis einer ungewöhnlichen Vatersuche am meisten überzeugte in einer Reihe von Filmen, die sich mit der Hippie-Ära und einigen ihrer herausragenden Figuren befassten. Dazu gehörte Sabine Gisigers und Beat Häners journalistische Fleissarbeit „Guru – Bhagwan, His Secretary & His Bodyguard“ ebenso wie die schweizerisch-deutsche Koproduktion „David Wants To Fly“ von David Sieveking über die Transzendentale Meditation und ihren verstorbenen Guru Maharishi Mahesh Yogi, dem der Starregisseur David Lynch verfallen ist. Die sanft ironische Art wie in diesen beiden ziemlich klassisch gestalteten Dokumentarfilmen mit luschen Figuren umgegangen wurde, vermisste man schliesslich in schmerzhafter Weise in einem der am meisten erwarteten neuen Schweizer Dokumentarfilme: „Bad Boy Kummer“ von Miklos Gimes. Kaum zu glauben, wie dieser erfahrene Cineast („Mutter“) sich hier von der hochstaplerischen Borderline–Persönlichkeit des Berner Pseudo-Journalisten Tom Kummer vorführen lässt, der in den 1990er Jahren mit hunderten von erfundenen Interviews und Reportagen für renommierte Zeitungen und Zeitschriften einen ganzen Berufszweig in Verruf gebracht hatte und heute noch stolz und unverhohlen mit seinen Heldentaten prahlt.

Das ist so unappetitlich wie unverständlich, und am befremdlichsten ist die Tatsache, dass ein derartiges Machwerk – im Gegensatz zu so vielen anderen hervorragenden Beiträgen am diesjährigen Visions du réel – einen Verleih gefunden hat und uns in einigen Monaten auch noch in den Kinosälen blüht.
(Geri Krebs)

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