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49. Solothurner Filmtage – Der Rückblick von Doris Senn

49. Solothurner Filmtage – Der Rückblick von Doris Senn

Das Flüchtlingsdrama «L'escale» und «Neuland», ein Film über jugendliche Migranten in Basel, sind die Preisträger der Solothurner Filmtage. Das Festival vermeldet neuen Publikumsrekord: rund 65 000.

Das Festival schliesst, wie es begann: mit einem dezidierten Votum zu Humanität und dem Engagement für Migranten. Viele Jungfilmer/innen präsentierten ihre Debüts – mit erfrischend wenig Heimatnostalgie.

Migranten zwischen Bangen und Hoffen: «L'escale»
Die Filmtage warfen mit dem Eröffnungsfilm, der «Akte Grüninger», einen kritischen Blick auf die Flüchtlingspolitik der Schweiz im 2. Weltkrieg. Und sie schlossen mit der Auszeichnung der Jury – in der Jean Ziegler mitwirkte – des Flüchtlingsdramas «L'escale» von Kaveh Bakhtiari. Der Regisseur, der 1988 mit 9 Jahren in die Schweiz kam, präsentierte sein Langfilmdebüt, in dem iranische Flüchtlinge – darunter der Cousin des Filmemachers – in einer Athener Wohnung Unterschlupf finden. Während sie alles in Gang setzen, um weiterzureisen in ein Land im Norden oder Westen, zeigt der Film ihren Alltag – das Eingesperrtsein, die Angst, entdeckt zu werden, ihre Verzweiflung, aber auch ihren Zusammenhalt. Ein eindrückliches Porträt und ein würdiger Preisträger des Solothurner Jurypreises, der «einen herausragenden Kinofilm, der durch einen ausgeprägten Humanismus überzeugt» prämieren soll.

«Neuland»: Flüchtlingsfilm mit Happy End
Das Publikum seinerseits kürte als Lieblingsfilm «Neuland», das Porträt einer Integrationsklasse von jugendlichen Migranten in Basel, die Anna Thommen während zwei Jahren filmisch begleitete: etwa den 19-jährigen Ehsanullah, der nach einjähriger Flucht von Afghanistan in die Schweiz kam – mit 20 000 Franken Schulden im Gepäck, hatten seine Eltern und Bekannte doch ebendieses Geld für seine Flucht aufgeworfen. Oder Nazljie und Ismail, ein Geschwisterpaar, das nach dem Tod der Mutter von Serbien zum Vater in die Schweiz migriert. Sie alle müssen innert zwei Jahren die Sprache lernen, sich mit der neuen Kultur und Mentalität anfreunden und eine Lehrstelle finden – was den Porträtierten nach einigen Umwegen und Hindernissen tatsächlich gelingt. Nicht zuletzt dank des väterlichen Engagements ihres Lehrers, «Herr Zingg», der sich mit viel Umsicht für seine Schützlinge einsetzt.

Kindheit und Familie – ein schwieriges Erbe
Nebst einem bunten Kaleidoskop an Themen stand gleich bei drei Filmen der Familienhintergrund im Zentrum. So in «Mon père, la révolution et moi», dem gelungenen Debüt der türkischstämmigen Uluk Emiroglu. Die Regisseurin rollt darin die Geschichte ihrer Eltern auf – Protagonisten der Revolution in der Türkei in den 70ern – in einem Mix aus Archivmaterial, dokumentarischen Befragungen und Animation. Was sich zu Beginn wie eine Eloge des kämpferischen Vaters anlässt, nimmt mit der Flucht der Familie in die Schweiz eine ebenso abrupte wie tragische Wende: Der Vater verliert den Boden unter den Füssen, wird zum Falschmünzer, schliesslich zum Alkoholiker – die Familie fällt auseinander …
Paul-Julien Robert wiederum realisierte mit «Meine keine Familie» die fühlbar schmerzvolle Annäherung an eine Kindheit, die der österreichische Regisseur in der berüchtigten Kommune des Wiener Aktionisten Otto Mühl verbrachte. Im Dialog mit seiner Mutter, die im Zuge der 68er-Revolution dort landete, und einer Unmenge an Archivmaterial (im Friedrichshof wurde das Kommunenleben auf Video festgehalten) zeichnet Robert das traumatisierte Aufwachsen auf: Freier Sex, Auflösung der Kleinfamilie, kein Eigentum – das waren die Prinzipien, auf denen die Kommune unter der sadistischen Führung Mühls basierte, der später wegen Kindsmissbrauchs verurteilt wurde. Die Kinder, die im Beziehungskuddelmuddel gezeugt wurden, entzog man der Bindung zur Mutter, die Väter waren meist unbekannt. Kinder und Erwachsene wurden in «aktionsanalytischen» Performances gezwungen, ihr Innerstes blosszulegen, bei «Versagen» wurde abgestraft. Bis heute tragen die Kinder der Kommune schwer an diesem Erbe.
Auch Abdellah Taïas Spielfilmdebüt «L'armée du salut» ist autobiografisch geprägt und erzählt in sinnlichen Bildern und gleichzeitig ungeschönt von seiner Kindheit in Marokko, seiner (uneingelösten) Liebe zu seinem Bruder, seinen frühen sexuellen Erlebnissen – wobei Schwulsein zwar gelebt, aber als grosses Tabu behandelt wird. Taïa, der in Genf studierte und als Schriftsteller seit 1998 im selbst gewählten Exil in Paris lebt, outete sich 2006 als schwul, was in seiner Heimat zu grossen Anfeindungen führte.

Die innere Struktur der Pommes-frites – und das Bienensterben auf Tessinerisch
Für einmal gab es in Solothurn keinen Film über das Alphorn, keinen zu Wanderschafhirten, (noch?) keinen zur neuen Trendsportart Schwingen und nur einen einzigen zur Idylle des Bauernlebens («Alpsummer»). Allerdings zog ein Bauer abseits der ruralen Nostalgie viel Aufmerksamkeit auf sich – im Film «Ueli Maurers Pommes-Frites-Automat». Ueli Maurer – ein Bauer mit Schwerpunkt Kartoffeln im zürcherischen Wallisellen und Namensbruder des SVP-Bundesrats – hat einen Traum: einen Pommes-Frites-Automaten. Daran arbeitet er nun schon seit rund zehn Jahren – ohne Rücksicht auf Verluste. Der Film über diesen schweizerischen Don Quijote, der in seinem Kampf für die perfekte «innere Struktur» maschinell hergestellter Pommes-frites von vielen belächelt wird, schliesslich aber Investoren in Dubai findet, stammt von dem in der Schweiz ansässigen deutschen Filmemacher Stephan Hille.
Nebst dem unterhaltsamen Einblick in diesen «American Dream» made in Wallisellen gab es noch ein kleines Bijou namens «Vigia» – so nennt man im Tessiner Heimatdorf des Regisseurs Marcel Barelli die «Biene». In Barellis Animationsfilm weist dessen Grossvater (aus dem Off) den Filmemacher an, eine Geschichte über das Bienensterben zu erzählen. Der Enkel folgt den Anweisungen, die er zeichnerisch umsetzt – eine zauberhaft-witzige Version von «More Than Honey» im achtminütigen Würfelkonzentrat.

Nominationen für den Schweizer Filmpreis
Traditionellerweise werden in Solothurn auch die Nominierten für die Schweizer Filmpreise bekannt gegeben. Diese werden in elf Sparten vergeben (neu dabei: die Montage). Darunter finden sich beim Dokfilm nicht nur die in Solothurn ausgezeichneten «L’escale» und «Neuland», sondern auch «Der Goalie bin ig» von Sabine Boss, der demnächst in die Kinos kommt, sowie «Mary Queen of Scots» von Thomas Imbach für den Spielfilm oder etwa «Vigia» als bester Animationsfilm. Ausführliche Infos dazu hier gleich anschliessend oder unter www.schweizerfilmpreis.ch.

BESTER SPIELFILM
Je Nomination CHF 25'000
BESTER DOKUMENTARFILM
Je Nomination CHF 25'000
Der Goalie bin ig, Sabine Boss, C-Films
Left Foot Right Foot, Germinal Roaux, CAB Productions
Les grandes ondes (à l'ouest), Lionel Baier, Rita Productions
Mary Queen Of Scots, Thomas Imbach, Okofilm Productions
Traumland, Petra Volpe, Zodiac Pictures
Der Imker, Mano Khalil, Frame Film
L'escale, Kaveh Bakhtiari, Louise Productions
L'expérience Blocher, Jean-Stéphane Bron, Bande à Part Films
Neuland, Anna Thommen, Fama Film
Vaters Garten - die Liebe meiner Eltern, Peter Liechti, Liechti Filmproduktion
   
BESTER KURZFILM
Je Nomination CHF 10'000
 
'A iucata, Michele Pennetta, Close Up Films
17 anni, Filippo Demarchi, Cinédokke
Man kann nicht alles auf einmal tun, aber man kann alles auf einmal lassen, Marie-Elsa Sgualdo, Terrain Vague
Sortie de route, David Maye & Tristan Aymon, Terrain Vague
The Green Serpent, Benny Jaberg, Benny Jaberg
 
   
BESTER ANIMATIONSFILM
Je Nomination CHF 10’000
BESTES DREHBUCH
Je Nomination CHF 5'000
Hasta Santiago, Mauro Carraro, Nadasdy Film
The Kiosk, Anete Melece, Virage Film
Vigia, Marcel Barelli, Nadasdy Film
Sabine Boss, Jasmine Hoch, Pedro Lenz, Der Goalie bin ig
Lionel Baier, Julien Bouissoux, Les grandes ondes (à l'ouest)
Petra Volpe, Traumland
   
BESTE DARSTELLERIN
Je Nomination CHF 5'000
BESTER DARSTELLER
Je Nomination CHF 5'000
Ursina Lardi, Traumland
Sonja Riesen, Der Goalie bin ig
Bettina Stucky, Traumland
Stefan Kurt, Akte Grüninger
Patrick Lapp, Les grandes ondes (à l’ouest)
Marcus Signer, Der Goalie bin ig
   
BESTE DARSTELLUNG IN EINER NEBENROLLE
Je Nomination CHF 5’000
BESTE FILMMUSIK
Je Nomination CHF 5’000
Leonardo Nigro, Die Schwarzen Brüder
Pascal Ulli, Der Goalie bin ig
Dimitri Stapfer, Left Foot Right Foot
Christian Garcia, L'expérience Blocher
Peter Von Siebenthal, Richard Köchli, Der Goalie bin ig
Adrian Weyermann, Lovely Louise
   
BESTE KAMERA
Je Nomination CHF 5’000
BESTE MONTAGE
Je Nomination CHF 5’000
Denis Jutzeler, Left Foot Right Foot
Lorenz Merz, Cherry Pie
Felix von Muralt, Die Schwarzen Brüder
Stefan Kälin, De Goalie bin ig
Karine Sudan, L'expérience Blocher
Tania Stöcklin, Vaters Garten - die Liebe meiner Eltern